Von Manfred Bechtel
Sind Sie auch Töpfer im normalen Leben?", fragt die Besucherin den Mann am Töpferrad. Unter seinen Händen wächst gerade aus einem Tonklumpen ein Tonkrug in die Höhe. "Das ist mein normales Leben, ich bin hier angestellt", die Antwort. Töpfer Martin hat Archäologie des Mittelalters studiert. Nach verschiedenen Jobs hat er hier sichtbar seinen Beruf gefunden. Er ist fest angestellt wie Mario Angelo, der als Harz IV-Empfänger, wie er sagt, "eine zweite Chance" bekommen hat. "Jetzt zählt man mich wieder zur Gesellschaft!", stellt er selbstbewusst fest.
Der gelernte Gipser und Stuckateur war nach einem Bandscheibenvorfall ohne feste Arbeit, nun macht er die Weidenkörbe, die als Transportmittel überall gebraucht werden. Das mag verwundern in einem Zeitalter, wo Bagger und LKWs Erde und Baumaterial bewegen, aber hier ist eine andere Zeit, hier ist das frühe Mittelalter auferstanden. Am Südrand der Schwäbischen Alb wird eine karolingische Klosterstadt gebaut mit den Techniken und den Materialien der Zeit. Wir sind in den Jahren nach 820, Karl der Große lebt nicht mehr, die berühmte Torhalle des Klosters Lorsch ist noch nicht gebaut.
"Campus Galli" heißt das Projekt nach einem Plan, der all die Jahrhunderte in der Bibliothek des Klosters Sankt Gallen schlummerte. Gezeichnet wurde er in der Benediktinerabtei auf der Reichenau im Bodensee. Das Pergament ist groß wie eine Landkarte und aus mehreren Teilen zusammengestückelt. Es stellt ein Ideal dar, wie nach der Regel des heiligen Benedikt Beten und Arbeiten organisiert werden können.
Von der Reichenau ging der Plan als Geschenk an den Abt von St. Gallen. Dort hat er alle Kriegswirren überstanden. Später wurde auf der Rückseite die Geschichte des heiligen Martin niedergeschrieben. Und als der Platz nicht ausreichte, drehte der Schreiber den Bogen um und radierte einfach ein Gebäude auf der Vorderseite aus. Was dort geplant war, darüber darf nun spekuliert werden. Andererseits ist das Dokument vielleicht nur wegen der Martinsvita erhalten geblieben.
"Wir haben als Langfristziel alles, was dargestellt ist, in irgendeiner Form im Gelände auch umzusetzen", erläutert Projektleiter Hannes Napierala. Dabei ist Findigkeit gefragt, gerade so, wie es die Widmung nahelegte: "Dir, liebster Sohn Gozbert, habe ich diese knappe Aufzeichnung einer Anordnung der Klostergebäude geschickt, damit du daran deine Findigkeit … üben möchtest." Vieles muss interpretiert und in die tatsächlichen Gegebenheiten projiziert werden, etwa was Baumaterial oder Wasserversorgung angeht.
Im Juni 2013 wurde die "Klosterbaustelle" eröffnet. Auf dem weitläufigen Waldstück nördlich von Meßkirch musste zunächst eine Art Infrastruktur geschaffen werden für dieses Forschungsprojekt, das gleichzeitig ein Freilichtmuseum ist. In den ersten drei, vier Jahren wurden die vielen, kleinen Werkstätten rundherum am Rand des Geländes errichtet. Die Schreinerei, der Abbundplatz, wo die Zimmerleute Balken mit der Axt zurichten, Werkstätten für Steinmetze und Schindelmacher. Töpfer und Schmied bezogen ihre Grubenhäuser, die Weberei und Näherei begann die Tuniken aus Leinen für die Werkleute herzustellen.
"Campus Galli" ist ein wichtiger wirtschaftlicher Impuls für die strukturschwache Region. Auch, weil hier das übliche "Betreten der Baustelle verboten!" gerade nicht gilt. Besucher sind willkommen. Sie sehen den Handwerkern bei der Arbeit zu, stellen Fragen und dürfen auch selbst Hand anlegen. Zum Beispiel in der Textilwerkstatt, wo rohe Wolle verarbeitet wird. Sie ist verfilzt und muss "gekämmt" werden, ehe man sie verspinnen kann. Gefärbt wird mit Farbstoffen aus der Natur. Für das Strohdach der Scheune sind zehntausend "Schauben" in Arbeit, das sind festverschnürte Strohbündel. Daraus fällt manches Körnchen zu Boden, und der Hahn und seine Hühnerschar sind fleißig am Picken. Ein Tag in Campus Galli ist auch ein Besuch im Tierpark, wo die kleinen und großen Stadtmenschen die Tiere des Bauernhofs beobachten können: Ziegen, Schafe, Schweine, möglichst ähnlich den historischen Vorbildern.
Wer Lust hat auf mehr als nur einen Besuch, kann sich auch als freiwilliger Mitarbeiter anmelden. Mindestdauer für die Mithilfe: eine Woche, also sechs Arbeitstage. Mitarbeiter werden eingekleidet: Frauen bekommen ein Leinenkleid mit Gürtel und Männer eine Leinentunika und Hose.
In dem Kloster hätten die Mönche einen Bereich gehabt, der ausschließlich ihnen vorbehalten gewesen wäre: die Klausur. Für die Anfangszeit wurde eine Holzkirche gebaut, mit gedrechselten Säulen und geschindeltem Dach. Es ist das erste größere Gebäude. Später soll sie abgelöst werden von der Abteikirche, errichtet aus örtlichem Kalkstein. Mit einer Länge von 70 Metern nicht nur für die damalige Zeit ein beeindruckender Bau. Aber davon ist man noch weit entfernt. Auf der Anhöhe stehen jetzt noch Buchen.
Es ist schon viel geschafft auf der Mittelalterbaustelle. Ein fester Mitarbeiterstamm ist die tragende Säule des Experiments. Ihnen gehen Praktikanten, Ehrenamtliche und die Teilnehmer der Arbeitsloseninitiative "Werkstättle" zur Hand. Sie finden hier für eine begrenzte Zeit ein Kontrastprogramm zu ihrem Alltag. Dass ihnen die Arbeit ausgeht, muss nicht befürchtet werden. "Es ist wie auf den Baustellen der mittelalterlichen Kathedralen", sagt der Korbmacher Mario Angelo, "die Architekten haben niemals die Fertigstellung gesehen!"