Krethi und Plethi zieht’s zur Elphi
Aber die meisten fahren nicht wegen der Musik nach Hamburg, vermutet Berthold Seliger in seinem Buch "Klassikkampf"

Kulturdampfer und Musiktempel der Superlative: Die Hamburger Elbphilharmonie. Aber spielt für die Besucher die Musik, die darin gespielt wird, überhaupt eine Rolle? Bedenken äußert der Autor Berthold Seliger in seinem Buch "Klassikkampf". Foto: Matthias Roth
Von Matthias Roth
Wie soll das weitergehen mit der anspruchsvollen Musik, wenn alles Klingende nur noch Pop und Unterhaltung ist? Der Buchautor Berthold Seliger überblickt den "Silbersee" im Parkett und die sich stetig reduzierende musikalische Bildung des Publikums und kommt ins Grübeln. Ist der Kanon von klassischen Werken schuld, die immer und immer wieder aufgeführt werden? Oder sind es die Künstleragenturen und Plattenfirmen mit ihren modernen Vermarktungsstrategien, die auf Massengeschmack ausgerichtet und der Pop-Branche abgeschielt sind? Jedes Klischee wird von den Verlagen bedient, wenn’s dem Verkauf dient, und Inhalte - künstlerische zumal - werden dafür mit leichter Hand über Bord geworfen.
Mozarts Requiem als Untermalung einer Parfüm-Werbung? Die "mutwillige Banalisierung" der klassischen Musik, die als stark subventionierte "kulturelle Dienstleistung" längst nicht mehr Teil des gesellschaftlichen Diskurses sei, mache aus einem Werk einen Hit und aus einem Konzert ein Society-Ereignis für die Eliten: "Der Neoliberalismus will keine ernste Kunst, er will Entertainment und Konsumismus, die für Ablenkung sorgen sollen."

Irgendwie mag das ja alles stimmen, denkt der Leser, aber glauben mag er es dennoch nicht ganz, denn es riecht nach Verschwörungstheorie. Vor allem aber bezweifelt er, dass da alle "Subventionsempfänger*innen" und "Allesmitmacher*innen" unter den Musikern, ja sogar die "Konzertgängerinnen" und "Husterinnen" im Saal tatenlos mitmachen. Seliger nimmt die Musik sehr ernst und untersucht ihren Stellenwert in der Gesellschaft präzise. Dabei will er sich auch kein Gender-Problem nachsagen lassen, was seinen Essay, der reichlich Diskussionsstoff bietet, sprachlich bisweilen etwas hölzern macht.
Nichtsdestoweniger hat er meistens recht, und am Anfang des "Klassikkampfs" steht die Statistik: Zahlen, Fakten und Prozente. 69 von 100 Bundesbürgern haben in den letzten zwölf Monaten kein einziges Konzert mit klassischer Musik besucht, aber immerhin waren jährlich nahezu vier Millionen Menschen in etwa 9300 solchen Veranstaltungen (Saison 2013/14). Ebenso viele, aber weniger als im Jahrzehnt davor, gingen in die Oper. Doch Statistiken lügen, wenn man falsche Fragen an sie richtet, und auch der Autor dieses Buches korrigiert die Zahl der Konzertbesucher zwei Seiten später auf über fünf Millionen, was seine Ursache in einer neuen Zählweise seit 2014 habe. Dabei gehen mehr Frauen ins Sinfoniekonzert als Männer und mehr 60- als 30-Jährige - außer es handelt sich um Neue Musik: Da sind es mehr junge Männer. Grundsätzlich handelt es sich dabei um Leute mit höherem Bildungsabschluss.
Die Besucher bekämen dabei, so Seliger, immer wieder das Gleiche vorgesetzt, die Hits von Bach bis Brahms, und weil das allgemeine Klassik-Lamento auch ein Dauerbrenner der Branche ist, der schnell in Fahrt kommt, sind auch die Situation der Orchester (ein Fünftel wenige als vor 14 Jahren: heute 130) und der nahende Kollaps des ganzen klassischen Musikmarkts im Handumdrehen als Menetekel an die Wand gepinselt: Das bestverkaufte Klassikalbum der USA im Jahre 2015 war "Benedicta" der Mönche aus Norcia, es wurde in diesem riesigen Land in einer Woche nur 298 Mal über die Ladentheke gereicht. Auch Startenor Jonas Kaufmann schaffte es im Kulturweltzentrum Deutschland nicht als Bestseller der Klassik in die Top-100 aller Musikgenres, das war nur Anna Netrebko mal vergönnt.
Besonders das "Elphi-Wunder" sei, bei allem Motivationsschub, der durch das neue Hamburger Wahrzeichen ausgelöst wurde, nur ein Beleg dafür, dass die musikalische Kunst selbst kaum mehr eine Rolle spiele: Es zähle hier allein das glamouröse Event, und die meisten Elbphilharmonie-Touristen kämen sicher nicht wegen der Musik an die Küste, sondern wegen des Spektakels um den teuren Bau. Der Klassik-Star diene hierzu als Werbeträger und würde industriell vermarktet, während die Mehrzahl gut ausgebildeter Musiker in Deutschland sich nebenher im Gruppenunterricht an den Musikschulen verdingen müsse - man ist auf Seite 50 und völlig deprimiert.
Doch dann wird es immer spannender: Seliger taucht tief in die historischen Urgründe des Konzertwesens, vom Biedermeier bis zum Dritten Reich, diskutiert die missliche Unterscheidung zwischen "U- und E-Musik" (um sie dann zu reinstallieren) und widerspricht dem Aberglauben, dass Musik eine Sprache sei, die jeder verstehe, ohne sie erlernen zu müssen. Ausgreifend seziert der Autor das Thema "Bildung", stellt gar elf Forderungen auf, mit denen sich das gegenwärtige Desaster an Schulen, Musikschulen, Universitäten und Hochschulen eindämmen ließe: Stadträte und Rektoren sollten sie studieren, bevor sie mächtige Unternehmer und Mäzene als Mitbestimmer an Bildungs- und Forschungseinrichtungen teilhaben lassen.
Immer wieder erwähnt Seliger auch Künstler, die sich diesem längst nötigen "Klassikkampf" bereits stellen, indem sie ihre Individualität und ihren künstlerischen Anspruch auf der Bühne verteidigen: Christian Gerhaher, Igor Levit, Carolin Widmann, Janine Jansen und Patricia Kopatchinskaja gehören dazu, auch Teodor Currentzis und auf der anderen Seite Musiker wie Lou Reed, Patty Smith, John Cale oder Laurie Anderson. Abschätzig bewertet er kommerzielle Klassik-Popstars wie David Garrett oder den André-Rieu-Sound. Aber selbst das Traditionslabel Deutsche Grammophon verkauft "Bach for Breakfast" oder "Baby"- und "Après-Ski"-Klassik und verwurstet dabei nicht nur die bedeutendsten Werke zu Häppchen für die Spaßgesellschaft, sondern untergräbt die ganze eigentliche Stärke klassischer Musik: ihre Unabhängigkeit von Zeitgeschmack und Mode-Hits.
Berthold Seliger ruft emphatisch zum Kampf für die klassische Musik auf, die sich vor solchen Marktstrategien und der Anbiederung an den Massengeschmack verteidigen müsse - während "Kulturkrieger" wie der Star-Bariton Thomas Hampson sie längst wieder aufs richtige Gleis bringen: Mit Aufklärung und Bildung etwa in der Heidelberger "Lied Akademie". Denn ein Publikum, das zwischen Bayreuth und Salzburg, Aix-en-Provence und Heidelberg/Schwetzingen hin und her reist, um klassische Musik nicht nur zu genießen, sondern eben auch zu hinterfragen, das sich mit Neuem auseinandersetzt oder Altes von anderer Seite beleucht haben möchte, kann nicht so uninteressiert und ungebildet sein, wie es gerne dargestellt wird.
Freilich: Die Masse fühlt sich von anderen Dingen angezogen als von Beethovens späten Streichquartetten. Aber wer nach einem Wochenende in Donaueschingen zufällig ein solches Werk im Autoradio hört, weiß auch, dass ein "Klassik-Kanon" durchaus Sinn macht, um zwischen Kunst, Kommerz und Clownerei einen Maßstab zu finden für kompositorische und musikalische Qualität. Nicht zuletzt ist es das, woran der Klassik-Fan glaubt, und er ist sich klar, dass er sich damit auf der Spitze eines Eisbergs bewegt, auf der nicht viel Platz ist.
Info: Berthold Seliger: "Klassikkampf - Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle". Matthes & Seitz, Berlin 2017. 494 Seiten, 24 Euro.