OB Dirk Elkemann (re.) begrüßt den besonderen Gast Paul Flagg, der als 14-Jähriger aus Wiesloch deportiert wurde. Links Wieslochs ehemaliger Kulturamtschef Manfred Kurz, den ein besonderes Verhältnis mit Paul Flagg verbindet. Foto: Pfeifer
Wiesloch. (oé) Paul Flagg spricht mit leiser Stimme. Seinem fließenden, akzentfreien Deutsch ist nicht im Geringsten anzumerken, dass er die Sprache über Jahrzehnte kaum oder gar nicht gesprochen hat. Er sitzt am Tisch im Dienstzimmer von Wieslochs OB Dirk Elkemann, der für den besonderen Gast einen kleinen Empfang ausgerichtet hat. Wieslochs Rathauschef nennt es eine Ehre, Paul Flagg im Rathaus begrüßen zu dürfen, und er empfindet diesen Besuch als "ganz besondere Geste". Denn zusammen mit seinem jüngeren Cousin Joel Flegenheimer ist Paul Flagg, der 1926 als Paul Flegenheimer zur Welt kam, der letzte aus Wiesloch stammende Überlebende des Holocaust.
Beide Vettern leben seit vielen Jahrzehnten in den USA. Paul Flagg (er änderte in Amerika seinen Namen) ist nun mit bald 92 Jahren noch einmal an die Stätten seiner Kindheit und Jugend zurückgekehrt - einer Kindheit und Jugend, die durch Verfolgung, Deportation, Krieg und Mord so jäh unterbrochen wurde.
Paul Flegenheimer war 14 Jahre alt, als er zusammen mit seinen Eltern und der ein Jahr jüngeren Schwester sowie über 6500 weiteren Juden aus Baden und der Saarpfalz am 22. Oktober 1940 in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert wurde. Für die meisten von ihnen war es eine Reise in den Tod.
Wie seine Empfindungen sind, wenn er an die Stätten seines Leids zurückkehrt? "Ich versuche, nicht daran zu denken", sagt er. Doch die Erinnerungen bleiben unauslöschlich: an die Schrecken einer "absolut unglaublichen" Zugfahrt von Heidelberg nach Gurs beispielsweise; oder an die ersten Eindrücke von dem riesigen Lager, in dem die Franzosen ursprünglich Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs interniert hatten. Einige von ihnen lebten noch dort, als die deportierten Juden aus Deutschland eintrafen. Für immer eingeprägt haben sich bei dem damals 14-Jährigen der knietiefe Schlamm und die "Erbsensuppe mit Würmern drin".
Für die Familie Flegenheimer beginnt eine Odyssee durch verschiedene Lager in Südfrankreich - immer in der Hoffnung, ein Ausreisevisum in die USA zu erhalten. Pauls jüngere Schwester Lore kommt in ein Waisenhaus und überlebt dort. Paul selbst wird von einer Schwester des schweizerischen Roten Kreuzes an die jüdische Hilfsorganisation O.R.T. vermittelt, die ihre Schützlinge auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereitet, indem sie sie handwerklich und landwirtschaftlich ausbildet. So wird er gerettet.
Die Eltern jedoch geraten in die tödlichen Mühlen der "Endlösung", werden im August 1942 nach Auschwitz transportiert und dort ermordet. Pauls Weg führt ihn in den Untergrund. Er schließt sich der französischen Widerstandsbewegung Résistance an und wird schließlich französischer Soldat.
Nach dem Krieg kehren der 20-Jährige und seine Schwester wieder nach Wiesloch zurück - ganz im Gegensatz zu vielen ihrer Leidensgenossen, die verständlicherweise nie wieder deutschen Boden betreten wollen. "Nicht alle Leute waren die schlimmsten Nazis", erklärt Paul Flagg heute seinen ungewöhnlichen Schritt. Zudem lebten in Wiesloch noch Verwandte: Eine Tante war mit einem christlichen Partner verheiratet. Die Geschwister konnten sogar in das alte Haus der Familie Flegenheimer einziehen, Nachbarn hatten deren Möbel aufbewahrt.
Ohne Schulabschluss und Berufsausbildung sah Paul Flegenheimer jedoch keine Zukunftsperspektive in Deutschland und so entschlossen sich der 23-Jährige und seine leider jung verstorbene Schwester 1949 zur Auswanderung in die USA. Dort hat Paul Flagg sein Glück gemacht. Er stieg in Milwaukee in den Gerbereibetrieb von Vettern des Vaters ein, lernte das Handwerk von der Pike auf und machte sich schließlich mit einer eigenen Gerberei selbstständig. "Es ist mir sehr gut gegangen dort", sagt Paul Flagg über seine neue Heimat Amerika.
Der Kontakt zu Wiesloch kam vor beinahe 28 Jahren wieder zustande, als der inzwischen pensionierte Stadtarchivar und Kulturamtschef Manfred Kurz die Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Deportation nach Gurs am 22. Oktober 1990 vorbereitete. Wie Kurz erzählt, nahm er Kontakt mit den Cousins Joel Flegenheimer und Paul Flagg auf, um sie einzuladen. Während der Jüngere sofort zusagte, zögerte Paul Flagg zunächst.
Erst nach einem persönlichen Gespräch mit Manfred Kurz, der zum Partnerschaftsbesuch in Sturgis weilte, entschieden sich Paul Flagg und seine Frau zur Reise und nahmen an der Gedenkveranstaltung in Wiesloch teil. Seither verbindet ihn und Manfred Kurz ein besonderes Verhältnis mit wechselseitigen Besuchen über all die Jahre.
Auch jetzt wieder begleitet Manfred Kurz seinen Gast auf dessen Reisestationen. So wird man in Frankreich (auf Vermittlung der Stolpersteininitiative Wiesloch und des Dielheimer Autors Anton Ottmann) drei Schülerinnen aus einem Gymnasium in der Nähe von Annecy treffen und unter anderem die ehemaligen Lager in Les Milles und Rivesaltes sowie natürlich Gurs besuchen, wo heute eine Gedenkstätte an das frühere Lager erinnert.
In Wiesloch stand das ehemalige Anwesen der Familie Flegenheimer in der Hauptstraße 131 auf dem Besuchsprogramm ("Stolpersteine" erinnern dort an die vertriebenen und ermordeten Bewohner); außerdem der jüdische Friedhof, wo Paul Flaggs Großeltern ruhen. Es kam auch zu Begegnungen mit Freunden, Bekannten und ehemaligen Schulkameraden, von denen allerdings nur noch wenige leben.
Den alten Schulweg nach Heidelberg sind Paul Flagg und Manfred Kurz ebenfalls abgefahren. Der kleine Paul musste wie andere jüdische Kinder auch eine gesonderte Klasse in Heidelberg besuchen, nachdem ihnen der Besuch der regulären Schule verboten worden war. Der Schulweg, die Straßenbahnhaltestelle - es sind die "positiven Erinnerungen", die im Mittelpunkt stehen, wie Manfred Kurz erzählt.
Trotz seiner bald 92 Jahre hat Paul Flagg diese lange Reise auf sich genommen. Selbst gesundheitliche Einschränkungen konnten ihn davon nicht abhalten (eine medizinische Betreuerin begleitet ihn deshalb). Die Ärzte hatten ihm sogar zugeraten - als Ermutigung und Motivation. "Ich gebe nicht auf", sagt Paul Flagg. "Wenn ich aufgegeben hätte, dann wäre ich heute nicht hier."