Von Tim Kegel
Sinsheim. Am Eingang der Bahnhofstraße, gleich bei der bunten "Wächter"-Statue, findet sich eine symbolträchtige Szenerie: Das Sinsheimer Kino hat dort eine Bretterbude postiert, um Kinokarten verkaufen zu können. Am selben Tag kam die Corona-Verordnung und das Häuschen musste wieder schließen. Seither ist der spärlich geschmückte Verschlag – nur wenige Stunden war er geöffnet – eine Art Mahnmal für all die menschlichen Geschichten und Schicksale hinter dem Corona-Virus und dessen tiefgreifende Auswirkungen. Für viele steht ein trauriges Weihnachten vor der Tür.
Pinguin-Kostüm bei 30 Grad
Ein wenig davon kündigte sich schon im Sommer an: Es hatte 30 Grad Celsius damals, als ein Mann im pelzigen Pinguin-Kostüm mit einem Glücksrad und Werbeflyern in der Bahnhofstraße stand. Der Pinguin war "Citydome"-Chef Frank Krause höchstselbst, Kinder und Eltern konnten Kino-Gimmicks gewinnen, wie vergünstigten Eintritt und Popcorn für lau. Schon damals blickte Krause sorgenvoll Richtung Winter, "mal schaun". Das sagte er in diesen Tagen auch. Der Bretterverschlag an der Brücke habe "wenigstens die Gutschein-Verkäufe im Internet angekurbelt". Jetzt hofft er, "dass sich viele impfen lassen, damit alles wieder normal wird". An ein Sinsheim ohne Kino denkt er erst einmal nicht.
20 Euro für Rest des Monats
Krause geht es besser als Annegret V., die – wie nahezu alle, mit denen man über diese Themen spricht – ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Mit "20 Euro für den Rest des Monats" in der Tasche sorgte sich die Aushilfe in einem Restaurant kürzlich, dass sie an Weihnachten Kerzen anzünden muss. Und das nicht, weil’s so romantisch ist: "Der Strom wird mir abgestellt", fürchtet sie. Es wird das erste Mal sein, dass die Aufstockerin ihrem Enkel keine Weihnachtsgeschenke machen kann. Die Novemberhilfen an die Gastronomie mit staatlichem Geld und in Höhe von bis zu 75 Prozent der Umsätze aus dem vorigen November seien "gut und schön", sagt V., "aber an uns Kleine im Service, die kochen oder putzen" denkt niemand. Der Chef von V., Antonio Z., sagt ohnehin: "Die Novemberhilfen, das sind vielleicht 25.000 Euro. Drei Viertel davon sind in zehn Minuten weg", weil Rechnungen und Mietrückstände beglichen werden müssen.
"Grüblerisch geworden"
Ähnlich geht es Koch Holger T., den die Langeweile und die Sorgen quälen, die er sich macht, wenn er die Leere in der Sinsheimer Fußgängerzone sieht: "Wie sieht das hier in ein paar Monaten aus?", fragt er sich. In der Zeit des "monatelangen Arbeitsverbots", wie er es nennt, hat er sich eingelesen: Tagespresse, Lokalnachrichten, große Zeitungen, sogenannte Alternative Medien. Und er hat mehr Fragen als Antworten, etwa zur Corona-Lage in Sinsheim: Die meisten Fälle, glaubt er zu erkennen, spielten sich "in klaren Hotspots ab", einer Hand voll großer Firmen sowie Senioren- und Betreuungseinrichtungen. Für Holger T. sind dies Indizien, dass "Einzelhandel und Gastronomie mit Auflagen öffnen" könnten. Am Bratwurststand am "Quint’s" – einen Luxus, den er sich in Zeiten der Kurzarbeit gönnt – erzählt er von Zweifeln am. gängigen Corona-Testverfahren, von denen er gelesen hat; von Wissenschaftlern, die glauben, zehn Fehler an dem Design der allem zugrunde liegenden Studie identifiziert zu haben. Auf Demonstrationen geht T. nicht, aber er sei grüblerisch geworden und fragt sich, warum "über solche Dinge nicht breit diskutiert" wird: "Wenn man mir die Fragen beantwortet und alles wirklich nützt, lass’ ich mich gern einsperren", sagt er.
"Vermisse Gesichter der Leute"
Sorgen – und "Wut", wie sie sagt – liegen auch bei Frauke C. unterm Weihnachtsbaum: Als nicht-medizinische Fußpflegerin musste die Mutter und Solo-Selbstständige ihre Aktivitäten einstellen. Die große Erleichterung habe sie sich von einem Aushilfsjob in einer sozialen Einrichtung im Kraichgau versprochen: Wenige Tage lang, dann musste auch diese schließen. Verbitterung klingt mit bei Frauke C., weil sie spürt, "dass zu spät reagiert" werde: Ihrer Ansicht nach würden "Abstandsregeln und der Schutz von Risikopatienten" ausreichen; Forderungen, die man inzwischen lauter höre, die jedoch bis vor Kurzem "ein No-Go" gewesen wäre, glaubt C. Die Corona-Krise, sagt sie, habe sie misstrauischer gemacht. Außerdem vermisst sie, "die Gesichter der Leute zu sehen".
"Gesellschaft vernebelt"
"Novemberhilfen beantragt" haben Renate und Frank W., Solo-Selbstständige. Der bürokratische Aufwand sei hoch gewesen, "aber mit Steuerberater ging’s". Geld gab’s bislang nur "ein Minimum" des Erwarteten, und so hält sich das eingespielte Duo mit kleineren Aufträgen über Wasser, "und mit dem Ersparten, das eigentlich mal für später gedacht war". Die Situation sei für beide deshalb "zu ertragen", weil sie beim Einstieg in die Selbstständigkeit Zeiten erlebt haben, die "schlimmer gewesen" seien. Damals wie heute zögen sie viel Kraft und Positives aus "Helfern, Freunden, Familie" – und "dem Glauben an den großen Erschaffer", sagt Frank W. Er hat sich abgewöhnt, Soziale Netzwerke zu lesen, weil dort zu viel stehe, was er "für Bullshit" hält: Oft, so sein Eindruck, werde "Kritik geübt, um die Angst zu vernebeln – und die Gesellschaft". Angst bereite ihm vor allem, "dass wir nicht wissen, ob wir gesund bleiben". Einer seiner Bekannten – "Sportler, Ende 40" – sei nach einer Covid-19-Erkrankung "ein Schatten seiner selbst".
Hochprozentiges
Marvin S. ist Angestellter in einem Einkaufsmarkt und ein eher gelassener Typ mit sicherem Job, der gern seine Studien treibt, wenn er Waren annimmt, Regale einräumt und Schwätzchen hält mit den Stammkunden. Er erlebt "Sonderbares", verrät er im Gespräch. Die Freundlichkeit der Kunden habe "sehr nachgelassen". Häufiger Streitpunkt: "Masken, Abstände, Einkaufwagen." Unmut, den er oft am eigenen Leib spüre: "Jeder beschwert sich sofort wegen Kleinigkeiten." Im Flüsterton verrät er außerdem, dass Kunden verstärkt zu Hochprozentigem neigen: "Manche, die das früher nicht gemacht haben, kaufen fast täglich flaschenweise Schnaps."