Gern als experimentelles Tandem unterwegs: Erwin Schaffer (vorne) und Christoph Ogiermann. Foto: Vokalensemble
Von Tim Kegel
Sinsheim/Eppingen. "Unerhört" – unter diesem Titel wird am Sonntag von rund 100 Musikern und Sängern aus Sinsheim, dem Kraichgau und aus Bremen ein neues klangliches Kapitel in der Dr.-Sieber-Halle aufgeschlagen. Im Mittelpunkt der Aufführung um 17 Uhr stehen die Transformation des heiteren Landstädtchens ins absurde "Sins-Home" und die Frage nach der "größten Kraft", die alles zusammenhält. Das Konzert unter Federführung von Erwin Schaffers Vokalensemble hat auch visuell und fürs Hirn einiges zu bieten.
Der heimelige Heimattage-Hort macht eine Veränderung durch: Ausgerechnet Sinsheim – so geht die Geschichte – verwandelt sich mehr oder weniger schleichend in einen Ort, an dem alle körperlichen Versammlungen verboten sind. Und ausgerechnet ein Chor – dieser tief in der Tradition verankerte Klangkörper – übernimmt die Vorreiterrolle jener Verwandlung.
Ein Experiment. Stück für Stück zieht sich Sinsheim zurück in diesem durchaus gewagten "Oratorium", wie Erwin Schaffer und die Bremer Musiker Christoph Ogiermann und Tim Schomaker die Gattung dieser Uraufführung nennen. Und welche ist nun die "Größte Kraft", die das Rad am Laufen hält? Sind es die Leuchttürme? Ist es Mäzen Dietmar Hopp oder Oberbürgermeister Jörg Albrecht? Ist es gar der Steinsberg?
Der wohl staunende Abendgast wird – so viel sei verraten – eigene Schlüsse ziehen. Und sowohl in Einspielern als auch auf der Bühne auf bekannte Sinsheimer "Akteure" treffen. Filmszenen des Werks wurden unter anderem an Sinsheimer Schauplätzen gedreht, wie dem Wochenmarkt, in der Gärtnerei Von Hausen, der Badewelt, der "PreZero"-Arena oder auch der Metzgerei Bräunling und der Geschäftsstelle der Rhein-Neckar-Zeitung.
Die Aufführung – ein Produkt monatelanger intensiver Vorbereitung – setzt auf eine strenge musikalische Struktur, improvisierende konzeptuelle Musiken, einen als Gruppe rezitierenden Chor und einen visuellen Teil. Dieser zeigt eine weitere Transformation: vom frühen sowjetischen Film hin zu Splitscreens, wie sie in einer Folge der US-Serie "Modern Family" zu sehen sind.
"Sins-Home, oder: Die größte Kraft" lässt Sinsheim zum wiederholten Mal auf der Landkarte der Neuen Musik auftauchen. Die Zusammenarbeit des Chors mit Christoph Ogiermann und zahlreichen anderen namhaften deutschen Avantgardisten existiert seit dem "Spurensuche"-Projekt im Jahr 2016. Das jetzige Werk, das unter anderem mit einem Countertenor und Live-Videos arbeitet, wird am 6. Februar um 22.03 Uhr unter dem Titel "Die Sins" auch in Form eines Hörstücks im Deutschlandfunk Kulturradio erstausgestrahlt.
Als Kernstück wird "Sins-Home" am Sonntag eingebettet in vier weitere Stücke, darunter eines für ein Percussions-Ensemble sowie eine Preisträger-Komposition des Neue-Musik-Wettbewerbs "ad libitum" für vierhändiges Klavier, Violine und Schlagzeug. Gemeinsam mit Schaffers Chor zu hören sind das Musik-Aktions-Ensemble "Klank" aus Bremen – in Avantgarde-Kreisen durchaus eine "Nummer" - ein Schlagzeugensemble der Musikschule Sinsheim, ein Chor des Wilhelmi-Gymnasiums, der Kammerchor des Eppinger Hartmanni-Gymnasiums sowie Musikern der Region vom Schlag eines Jörg Burgstahler und Werner Freiberger. Der Eintritt zur Aufführung in der Dr.-Sieber-Halle ist frei.
Ein weiteres Mal wird "Sins-Home" am 5. Februar um 19 Uhr im Rahmen des 40. Eclat-Festivals für Neue Musik an der Staatsoper in Stuttgart aufgeführt.