Von Thomas Frenzel
Region Heidelberg. Vier Seiten, zwei Fotos, eine Landkarte. An einem spätsommerlichen Mittwoch stehen sie für den Aufbruch in eine neue Zukunft. Es ist der 5. September 1945, der Tag, an dem zum ersten Mal die Rhein-Neckar-Zeitung erscheint. Zweimal pro Woche. Der überschaubare Umfang ist dem Mangel an Papier und Druckerschwärze geschuldet. Die Lizenz zur Herausgabe hat die amerikanische Militärregierung an die Bedingung geknüpft, dass die neue Zeitung für den "neuen Geist" steht, mit dem schon diese ersten vier Seiten so eindringlich von der Nazidiktatur abrücken. 75 Jahre später steht fest: Diese Abgrenzung hatte und hat Bestand – immer und immer wieder.
Das kämpferische Bekenntnis zu dieser noch zu formenden neuen Demokratie spricht aus jeder Zeile dieser Nummer 1. Und natürlich ist sie – vier Monate nach Kriegsende – geprägt vom wichtigsten Weltgeschehen: Nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki hatte Japan drei Tage zuvor kapituliert. In London sprach sich der Premier Clement Attlee für eine neue Weltordnung aus und verkündete wegen des Bedarfs der darniederliegenden britischen Industrie an Arbeitskräften die Demobilmachung. Nicht minder ausführlich wird über die Wiedererstehung der Gewerkschaften berichtet. In Heidelberg finden sie sich im Lichtspieltheater "Capitol" zur Gründung des Allgemeinen Freien Gewerkschaftsbundes zusammen.
Diese Ausrichtung auf das direkte Umfeld der Leserschaft ist bewusst. Die drei Herausgeber Rudolf Agricola, Theodor Heuss und Hermann Knorr sprechen in ihrer gemeinsamen Botschaft vom "landschaftlichen Charakter des Blattes". Es ist das Versprechen regionaler Verwurzelung, mit nur vier Seiten gleichwohl eine gewaltige Herausforderung: Das Verbreitungsgebiet der neuen Rhein-Neckar-Zeitung reichte von Darmstadt bis Pforzheim, von den Toren Heilbronns bis Mannheim.
Und dennoch: Schon in der ersten Ausgabe wird nicht nur über Heidelberg berichtet oder vom wieder aktivierten Postverkehr in Nordbaden, sondern auch "aus Leimen". Es ist eine Meldung mit einem ganz praktischen Anliegen: Leimener Schüler haben Brombeerblätter zu sammeln, um so die Schulbücher zu finanzieren. Angesichts der reifen Früchte ist das nächtliche Begehen der Weinberge untersagt und die Kartoffelfelder sind nach Kartoffelkäfern abzusuchen.
Zugleich werden im Lokalteil die Sehnsucht nach und das Bemühen um ein Stückchen Normalität im Nachkriegsalltag deutlich. Für den Heidelberger Schlosshof ist ein Serenadenkonzert angekündigt und die Bergbahn fährt, die von der Militärregierung belegten Volksschulen öffnen allmählich wieder – freilich ohne die alte Nazilehrerschaft, und in der Heidelberger Providenzkirche gibt es den ersten Gottesdienst der Evangelischen Jugend seit Kriegsende.
Und im Anzeigenteil? Da scheint alles schon wieder seinen normalen Gang zu gehen. Ein Maschinenbauingenieur mit "perf. engl. Sprachk." sucht Arbeit, ein "kräftig. Junge, 13 J. alt" Beschäftigung auf dem Land. Ein Heidelberger bietet an, eine Leica-Kamera gegen eine Herrenpelzjacke einzutauschen, die Briefmarkenhändler Wolfschlag und Wilhelmy kaufen Sammlungen "gegen Kasse". Mitfahrgelegenheiten unter anderem nach Hannover werden gesucht und angeboten, Ausschau wird gehalten nach Gärten zum Kauf und nach Lagerräumen zur Miete und auch die "Kameradschaft" mit einer netten jüngeren Dame ist begehrt. Die Voraussetzung, die diese gesuchte Weiblichkeit erfüllen soll, ist in dieser Kleinanzeige ebenfalls vermerkt: "akt. mod. Lebensauff. u. Aufmach. (hochh. Lederschuhe etc.)"
Bei allem Ernst, der aus der ersten Ausgabe der Rhein-Neckar-Zeitung spricht: Bei dieser Anzeige ringt sie dem Leser ein Schmunzeln ab.