Von Noemi Girgla
Neckar-Odenwald-Kreis. Um die Nächte zwischen den Jahren ranken sich viele Mythen. Im Volksmund nennt man sie Rauhnächte, Glöckelnächte, Inner- oder Unternächte, aber auch die heiligen Nächte – je nach Region. Welche Nächte genau zu ihnen zählen (mancherorts gehört auch der Thomastag am 21. Dezember dazu), unterscheidet sich ebenfalls regional. Viele Bräuche sind für diese zwölf Nächte zwischen Weihnachten und dem 6. Januar tradiert. Manche haben sich bis heute erhalten, ohne dass das den meisten noch bewusst ist.
Ingrid Hagner ist Kräuterexpertin. Wie viele Vorträge und Führungen sie zu diesem Thema bisher gegeben hat, kann sie heute nicht mehr zählen. "Wenn man sich mit Kräutern und ihrer heilenden Wirkung befasst, stößt man automatisch auch auf den Volksglaube", berichtet sie. Im Neckar-Odenwald-Kreis hat sie schon zahlreiche Führungen gegeben. Meist standen dabei die Kräuter im Mittelpunkt, aber auch Themenführungen kamen mit den Jahren dazu: unter anderem zu den Rauhnächten.
"Der Begriff Rauhnacht kommt vermutlich von Rauch. Denn es war (und ist es mancherorts noch) Brauch, in dieser Zeit das Haus und den Stall zu räuchern und so die bösen Geister des vergangenen Jahres zu vertreiben", erklärt Hagner. Die 74-Jährige erinnert sich noch gut, wie auf dem Hof ihrer Großeltern in Obereisesheim geräuchert wurde. "Besonders wichtig war der Stall. Die Tiere waren für die Bauern schließlich überlebenswichtig." Damals habe es noch keine speziellen Räucherpfannen gegeben. Mit einem sogenannten "Kräuterwisch" sei man durch die Räume gegangen. "Heute unvorstellbar, wo doch alles aus Holz war und im Stall Stroh lag", rekapituliert sie.
Hagner weiß aber auch noch um andere Bräuche, die in vorchristlicher Zeit fußen. "In den Rauhnächten durfte keine Wäsche gewaschen und aufgehängt werden. In dieser konnten sich nämlich sonst die ,Wilde Jagd’, die in dieser Zeit durch die Lüfte rauschte, oder andere Geister verfangen. Man sagte, wer Wäsche wusch, habe im kommenden Jahr einen Todesfall zu beklagen. Es durfte nicht schlecht über einen anderen gesprochen werden, das konnte sonst 100-fach zu einem zurückkommen. Nägel und Haare durften nicht geschnitten werden, denn wenn ein Geistwesen einen Teil von einem bekam, hatte es Macht über diesen. Gesponnen werden durfte auch nicht. Es hieß nämlich, Frau Holle gehe um, verwirre die Fäden und strafe den, der sie sehe, mit Blindheit." Und das sind nur einige wenige Beispiele für die Verhaltensregeln in diesen Tagen.
Der Glaube an Geistwesen, die einem nichts Gutes wollten, war damals stark ausgeprägt. "Es heißt, in den Rauhnächten sei die Membran zwischen den Welten besonders dünn, und Wesen aus der ,Anderswelt’ könnten hindurchschlüpfen. Wenn diese aber nicht rechtzeitig wieder in ihre Welt zurückgekehrt seien, müssten sie ein ganzes Jahr auf der Erde wandeln. Das würde sie wütend machen, und sie ließen dies an den Menschen aus", berichtet Ingrid Hagner.
Die Vorstellung, dass zwischen den Jahren die Zeit "den Atem anhalte", hat laut der Kräuterexpertin einen einfachen Hintergrund: Früher hatte das Jahr nach dem Mondkalender nur 354 Tage, heute hat es (nach dem Sonnenkalender) aber 365. "Die übrigen Tage fallen quasi aus der Zeit. Hinzu kommt, dass die Lichtverhältnisse besonders sind, es ist oft neblig – alles ist etwas mystischer als sonst."
Hagner kennt auch Geschichten aus dem Neckar-Odenwald-Kreis, was in den Rauhnächten geschehen sein soll. "Eine alte Frau erzählte mir einst in Mosbach von einer jungen Magd aus der Umgebung, die noch spät unterwegs war, um Kräuter für die Räucherung zu besorgen. Es war schon dunkel, bevor sie zu Hause war, und sie verirrte sich. Plötzlich sah sie im Wald zahlreiche Lichter – Irrlichter. Als die Magd die Gefahr erkannte, fiel sie auf die Knie, fing an zu beten und verbrannte einige der Kräuter, die sie mit sich führte. Die Lichter verschwanden, und die junge Frau kam sicher nach Hause."
Bei einer Führung in der Nähe von Neudenau hörte Hagner die Geschichte über einen Tagelöhner, der in einer Rauhnacht Holz holen war. "Er traf eine alte Frau, die ihn um etwas Holz bat. Erst wollte er ihr nichts abgeben, ließ sich dann aber doch erweichen. Als er zu Hause ankam, hatte sich die Menge seines Holzes verdreifacht. Man sagte im Nachhinein, er sei an diesem Tag Frau Holle begegnet, die die Faulen und Taugenichtse bestraft, die Rechtschaffenen aber belohnt."
Ingrid Hagner erzählt weiter, dass die heiligen Nächte auch gerne für einen Ausblick ins kommenden Jahr genutzt wurden. Zwölf Nüsse oder Zwiebelhälften, je eine pro Monat, sollten Aufschluss über die jeweilige Fruchtbarkeit dieses Monats geben. Jungen Mädchen sollte es an einigen Tagen zwischen den Jahren möglich sein, einen Blick auf ihren Zukünftigen zu erhaschen oder mittels einer Apfelschale zumindest den Anfangsbuchstaben seines Namen zu erfahren.
Und auch wenn wir heute über diesen alten Volksglauben schmunzeln mögen, ist er uns doch noch näher, als viele denken. Denn wer hat an Silvester noch nie Bleigießen, beziehungsweise inzwischen Wachsgießen gemacht ...