Forstbezirksleiter Dietmar Hellmann kennt den Wald wie seine Westentasche. Er freut sich, wenn er dort nicht nur von Bäumen, sondern auch Geschichten von Menschen erzählen kann – wie die vom „Wilden Weib“. Foto: Noemi Girgla
Von Noemi Girgla
Neunkirchen. Dass der Krösselbach, der einer Quelle im Gemeindewald von Neunkirchen entspringt, einst eine Mühle am Weiler Krösselbach betrieben haben soll, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Und doch ist diese Mühle ein wesentlicher Teil der Geschichte, wie der Wilde Weibelsberg zu seinem Namen kam.
Dietmar Hellmann, Leiter des staatlichen Forstbezirks Odenwald in Schwarzach (ForstBW), kennt den Wald wie seine Westentasche. Schon unzählige Male war er auf dem Neckarsteig und abseits der Pfade unterwegs. Etwas oberhalb des schmalen Weges, auf halber Höhe des Wilden Weibelsbergs, befindet sich an einem Steilhang ein großer Felsen, der eine kleine Höhle beherbergt. "Hier soll sie im Mittelalter gelebt haben", erzählt der Forstbezirksleiter.
Mit "sie" ist das "Wilde Weib" gemeint. Nicht etwa eine Kräuterfrau oder gar Hexe, wie man bei dem Namen vermuten könnte. "Sie" war eine Frau, die im Volksmund als "halb Mensch, halb Tier" beschrieben wurde. Am ganzen Körper soll sie behaart gewesen sein, sonst auch nichts am Leib getragen und die Menschen gemieden haben, berichtet Hellmann. "Die Bewohner der Dörfer waren an ihren Anblick gewöhnt, aber sie war ein scheues Wesen, und so kam es nicht zu Interaktionen zwischen ihr und den Leuten, die in Wald arbeiteten oder Brennholz sammelten."
Das sollte sich eines Sommers jedoch ändern. "Ein spanischer Müllerbursche begann, auf der Krösselbacher Mühle zu arbeiten", beginnt Hellmann die Sage zu erzählen. "Eines Nachts, bei Vollmond so sagt man, soll der Bursche aus seinem Fenster geblickt haben. Damals gab es eben weder Netflix noch Smartphones, und der junge Mann langweilte sich vermutlich oder hatte Sehnsucht nach der Heimat. Jedenfalls fiel sein Blick oberhalb des Weilers auf das Wilde Weib und er wurde neugierig.
Es kam, wie es kommen musste. Der Müllerbursche nährte sich der Frau und anstatt wegzulaufen, soll sie ihn angelächelt haben. Er ging auf sie zu und die zwei fanden Gefallen aneinander. Eigentlich kein Wunder, sie müssen beide sehr einsam gewesen sein."
Worin sich die verschiedenen Varianten der Legende einig sind, ist, dass aus der Liaison ein Kind hervorging und der junge Spanier dann aber plötzlich verschwunden war. "Sagen wandeln sich im Lauf der Zeit", gibt Hellmann zu bedenken. Er selbst kennt die Geschichte so, dass nicht ganz klar ist, was aus dem Müllerburschen wurde. Andere sagen, er sei vermutlich zurück nach Spanien gegangen. "Was auch immer mit ihm geschah, das Wilde Weib hatte auf einen Schlag seinen kompletten Kontakt zur Außenwelt verloren", erzählt Hellmann weiter.
"Sie soll seither nicht mehr gesehen und Wochen später zusammen mit dem Kind verhungert in ihrer Höhle gefunden worden sein", kennt der Leiter des Forstbezirks die Sage. Es gibt aber auch noch eine grausigere Version des Geschehens. In dieser soll die Frau das Neugeborene getötet und zugleich die am Krösselbach Lebenden verflucht haben. Erst danach habe sie sich "freiwillig dem Hungertod preisgegeben und der Menschheit eine Tragödie verschmähter Liebe hinterlassen", schrieb Walter Helm 1994 in seinem Aufsatz "Die Sage vom Wilden Weibelsberg bei Lindach". Laut ihm sollen auch die alten Leute von Lindach erzählt haben, dass das "Kirchlein auf dem Bergkamm zu ihrem Andenken errichtet worden" sein soll.
Nicht weit des Felsens mit seiner Höhle ließ Anfang des 20. Jahrhunderts Heinrich Steidel, der Forstmeister der Bezirksforstei Neckarschwarzach (wie die Forstbezirksleitung Schwarzach damals hieß), den Wilden Weibelsbrunnen fassen und in einen Stein meißeln: " Beim wilden Weibelsberge, da sprudelt ein Bächlein klar, und wer davon tut trinken, wird leben noch viele Jahr".
Was nach einer weiteren Legende klingt, entpuppt sich jedoch als PR-Gag. "Die Zeit damals war romantisch verklärt", erläutert Hellmann. Die Menschen habe es in dem Wald gezogen und sein Vorgänger habe vielleicht einfach gerne gereimt und noch dazu Wanderer anlocken wollen. Das hat er bist heute geschafft.
"Ich finde es schön, wenn ich mit anderen im Wald bin, nicht nur von den Bäumen, sondern auch Geschichten erzählen zu können", schließt Hellmann die Wanderung über den Wilden Weibelsberg mit der RNZ ab. "Es geht im Wald schließlich nicht immer nur um Bäume, sondern auch um Menschen." Und das vom Mittelalter bis in die heutige Zeit.