Anette Weigler hat sich bestmöglich auf die Freischaltung vorbereitet. Mit vier Rechnern und per Telefon versucht sie, ab Mitternacht einen Termin für ihre Mutter (86) zu bekommen. Kurz blüht Hoffnung auf, doch nach drei Minuten sind alle Termine schon wieder weg. Foto: privat
Von Caspar Oesterreich
Neckar-Odenwald-Kreis. Kurz vor Mitternacht in Mosbach: Anette Weigler gähnt und setzt sich an den Esstisch. Die Rollläden sind herabgelassen, die Küche dunkel, allein das Blau der Bildschirme strahlt sie an. Zwei Laptops und ebensoviele Tablets hat sie vor sich auf den Tisch gestellt, um endlich einen Corona-Impftermin für ihre Mutter – stolze 86 Jahre alt – zu ergattern. Der benötigte Vermittlungscode ist schon auf jedem Rechner eingegebenen, und selbst das Smartphone liegt parat, um es parallel auch über die zentrale Hotline zu versuchen. "Fünf, vier, drei, zwei, eins", zählen Anette Weigler und ihr Mann die letzten Sekunden bis zum Glockenschlag herunter. Dann wird wie wild auf die Anmelde-Buttons geklickt.
Eine Szene, wie sie sich dieser Tage wohl vielerorts im Neckar-Odenwald-Kreis abgespielt hat. In den Nächten von Mittwoch auf Donnerstag und Donnerstag auf Freitag wurden wieder ein paar Termine für das Mosbacher Kreisimpfzentrum (Kiz) freigeschaltet. Weitere 216 Impfdosen stehen bereit, die am 25. und 26. Februar verabreicht werden sollen.
Und die Weiglers haben (zunächst) Glück. Während das Handy noch wählt, ploppen auf einem der Rechner plötzlich zwei Terminvorschläge auf. Als sie nur wenige Sekunden später einen der beiden auswählen wollen, ist der Termin aber bereits vergeben. "Das ist doch eine Katastrophe", ärgert sich Anette Weigler. "Wer hat sich dieses unmögliche Verfahren ausgedacht? Warum erfolgt die Freischaltung stets um Mitternacht? Und wie sollen das Senioren über 80 Jahre alleine überhaupt schaffen, wenn selbst wir das mit vier Computern nicht hinbekommen?", sucht sie Antworten, die ihr keiner geben kann.
Zahlreiche enttäuschte wie verärgerte Anrufe und E-Mails erreichten die RNZ-Redaktionen in Buchen und Mosbach in der vergangenen Woche. Von Senioren, die von der Online-Terminvorgabe überfordert sind und auch über die Hotline nicht weiterkommen. Von Angehörigen, die verzweifelt versuchen, für die betagten Eltern einen Termin zu vereinbaren, aber immer wieder an der Aufgabe scheitern. "Ich werde es langsam leid. Jeden Tag rufe ich unter der 116.117 an, und immer wieder heißt es, ich soll es morgen noch einmal probieren, weil es im Moment keine Termine, keinen Impfstoff gibt", macht eine Leserin aus Aglasterhausen ihrem Ärger Luft. "Irgendwann probiere ich es gar nicht mehr, es reicht mir langsam." Sie sei ja bereit zu einer Impfung, sehe es aber nicht ein, "dass ich mir die ganze Mühe machen muss".
Eine andere Leserin aus Obrigheim berichtet sogar, um Punkt Mitternacht am Donnerstag die zentrale Hotline angerufen zu haben – allerdings automatisch zur örtlichen Feuerwehr weitergeleitet worden zu sein. "Einen Termin konnten die mir natürlich nicht geben." Selbst das Deutsche Rote Kreuz, das im Neckar-Odenwald-Kreis stellvertretend für Impfberechtigte versucht, Termine im Kiz zu bekommen, zieht eine "ernüchternde Bilanz": sowohl bei dem Hilfsangebot für die Senioren, als auch bei der Terminvergabe für die eigenen Rettungskräfte.
Verantwortlich für die Terminvergabe im Land ist das Ministerium für Soziales und Integration. Die Internetplattform wurde laut Impressum von den Kassenärztlichen Vereinigungen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung entwickelt. Die 116.117 sei zwar für Anfragen bzgl. des Ärztlichen Bereitschaftsdienstes rund um die Uhr besetzt, Impftermine könnten über die zentrale Hotline allerdings nur in der Zeit von 8 bis 22 Uhr vereinbart werden, teilte ein Ministeriumssprecher auf Anfrage mit. Am Donnerstag und Freitag waren die verfügbaren Termine für das Kiz in Mosbach allerdings innerhalb von weniger als fünf Minuten reserviert.
Landrat Achim Brötel fände es besser, wenn "man uns seitens des Landes nicht nur Vorgaben bis ins letzte Detail macht, sondern vor allem auch Spielräume für flexiblere Lösungen vor Ort gelassen hätte", wie er im RNZ-Interview betonte.
Wegen anhaltender Kritik an der Vergabe von Impfterminen plant die Landesregierung mittlerweile einen Strategiewechsel: "Wir werden auf ein sogenanntes Re-Call-System umstellen", kündigte Gesundheitsminister Manfred Lucha an. Voraussichtlich schon ab Montag sollen sich Impfberechtigte einfach registrieren können. Anschließend bekämen sie bei verfügbarem Vakzin einen Termin mitgeteilt und müssten nicht weiter bei der Hotline anrufen.
Anette Weigler findet diese Strategie gut: "Das ist immerhin eine altersgerechtere Lösung – das aktuelle Chaos kann man keiner Seniorin, keinem Senior zumuten." Gleichzeitig könne man sich glücklich schätzen, "dass die Wissenschaft innerhalb eines Jahres einen Impfstoff entwickelt hat."