Heute vor 50 Jahren startete der nukleare Betrieb (unsere Aufnahme stammt aus den ersten Betriebsjahren) des Kernkraftwerks Obrigheim (KWO). Das prägte in den darauffolgenden mehr als 36 Betriebsjahren die Gemeinde und die Region, ehe es 2005 für immer abgeschaltet wurde. Archiv-Foto: EnBW
Obrigheim. (rnz) In Deutschland hat sie viele Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgelöst, ihre Gefahren in Tschernobyl und Fukushima offenbart. Auf der anderen Seite hat die friedliche Nutzung der Kernkraft Unmengen an Energie geliefert, vor allem auch die Region über viele Jahre geprägt. Seit 2005 abgeschaltet, befindet sich das Kernkraftwerk Obrigheim auf der Zielgeraden des Rückbaus. Am heutigen Samstag jährt sich indes ein für das Kraftwerk a. D. besonderer Tag zum 50. Mal:
Es war der 22. September 1968, 5.45 Uhr. Stundenlang wurde in der Nacht Wasser ("Deionat") in den Primärkreislauf des Kernkraftwerkes eingespeist. Der Reaktor des Kernkraftwerks Obrigheim (KWO) war zum ersten Mal "kritisch". In der Schaltwarte des KWO herrschte eine freudige Stimmung, unter Vertretern von Politik und Presse verbreitete sich Feierlaune. Eine kleine Gruppe von Siemens-Physikern und Fachpersonal des KWO verfolgte und kontrollierte die physikalische Situation in der Anlage. In diesem Augenblick begann der nukleare Betrieb des Kernkraftwerkes Obrigheim.
Doch was heißt das - der Reaktor ist "kritisch"? Was geschah hier so lautlos und unspektakulär? Ein Kernspaltungsreaktor erzeugt seine Energie in Form von Wärme, die zum größten Teil als Bewegungsenergie der Spaltprodukte bei dem Spaltprozess frei wird. Der Kern des Spaltstoffes (wie zum Beispiel U235) zerfällt in zwei Bruchstücke (Spaltprodukte) und diese werden in dem Brennstoffgitter, beispielsweise in der Urantablette, abgebremst und heizen diese auf. Ursache für die Spaltung des Urankerns ist ein Neutron, welches zunächst vom Atomkern aufgenommen wird und diesen destabilisiert, so dass er auseinanderbricht, also gespalten wird.
Außer den Spaltprodukten werden bei diesem Vorgang unter anderem sehr energiereiche Neutronen sofort ("prompt") freigesetzt. Einige der Spaltprodukte emittieren beim radioaktiven Zerfall ebenfalls Neutronen, die "verzögert" deren Anzahl im Reaktor erhöhen. Von den so erzeugten Neutronen wird im Reaktormaterial ein Teil absorbiert oder geht durch die Oberfläche des Reaktors verloren. Ein Austreten der Neutronen in die Umgebung wird jedoch durch eine geeignete Abschirmung verhindert.
Man spricht von einem "kritischen Reaktor", falls von allen direkt bei einer Spaltung prompt und beim radioaktiven Zerfall der Spaltprodukte verzögert freigesetzten Neutronen wieder genau ein Neutron für die Einleitung einer Kernspaltung zur Verfügung steht. Damit ändert sich die Zahl der Neutronen im Reaktor nicht, und da jedes so verfügbare Neutron eine Spaltung mit einer entsprechenden Wärmefreisetzung erzeugt, bleibt die gesamte Leistung im kritischen Reaktor zeitlich konstant. Es entsteht eine stabile, sich selbst erhaltende Kettenreaktion.
Die Dynamik des Reaktors ist durch den Anteil der "verzögerten" Neutronen bestimmt. Diese erlauben eine gute Regelfähigkeit der Neutronendichte im Reaktor und somit auch der Reaktorleistung. Ein Druckwasserreaktor wie der KWO-Reaktor hat selbststabilisierende Eigenschaften, die eine unkontrollierte Kettenreaktion verhindern.
"Vor dem Hintergrund des aktuellen Ausstiegsszenarios aus der Kernenergie sind für ein Großteil der heutigen Bevölkerung die Empfindungen der unmittelbar Beteiligten von damals schwer nachzuvollziehen", erklärt Dr. Dieter Sommer, der viele Jahre als Fachbereichsleiter "Überwachung" im KWO tätig war und über die Physik des Reaktors an der TU Stuttgart promovierte. Katastrophen wie Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima hätten berechtigt Angst und Sorgen bei den Menschen ausgelöst, so dass in Deutschland diese Form der Energieerzeugung keine Akzeptanz mehr erreicht.
Allerdings sind heute 451 Reaktoren verschiedener Bauart weltweit in Betrieb und 58 neue Anlagen befinden sich im Bau. In 25 Ländern sind 150 Kernkraftwerke in der Planungsphase. "Trotz der Gefahren, die beim verantwortungslosen Umgang mit dieser Energieart unser zivilisatorisches Leben bedrohen, ist die Nutzung der Kernenergie für diese Länder eine Option der Energiegewinnung", so Sommer.
Nahezu alle Energie, welche ein Leben auf unserer Erde ermöglicht, stamme, so Sommer weiter, von der Sonne. Dies gelte auch für die sogenannten regenerativen Energien aus Wasser oder Windbewegung, die Solaranlagen und die Bioenergieerzeugung. "Heute wissen wir, dass unsere Sonne und viele anderen Sterne als Energiequelle hauptsächlich die bei der Fusion von Wasserstoff (Proton) zu Helium frei werdende Kernenergie nutzen."
Das Verstehen des "Sonnenfeuers" veranlasste den englischen Astrophysiker Sir Arthur Eddington bereits 1930 von einem 100 MW Fusions-Kernkraftwerk zu schwärmen. Dies bedeutet allerdings, die extremen "Betriebsbedingungen" in der Sonne technisch nachzubilden, also eine Reaktionstemperatur von 150 Millionen Grad Celsius und einen Betriebsdruck, der größer ist 100 Milliarden bar!
Die Entdeckung der Kernspaltung zeigte einen neuen, wesentlich einfacheren Weg zur Energiegewinnung durch Kernenergie. Beispielsweise waren im KWO die Temperaturen im Brennstoff etwa 600 Grad Celsius und im Kühlmittel etwa 315 Grad. Der Kühlmitteldruck betrug rund 145 bar. Diese Werte sind technisch gut beherrschbar. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass man den Weg gegangen ist, die Kernenergiegewinnung zunächst mit Kernspaltungsreaktoren zu versuchen. Die gegenwärtige technische Nutzung der Kernenergie ist nur mithilfe solcher Reaktoren möglich. Was allerdings den folgenschweren Nachteil hat, dass dabei naturbedingt äußerst langlebige radioaktive Spaltprodukte entstehen. "Diesen Nachteil hat die Energiegewinnung mittels Kernfusion nicht", führt Sommer aus.
Der Betrieb von Spaltungsreaktoren, der bei KWO mit dem ersten "Kritischmachen" vor 50 Jahren begann, liefert aber wichtige Erkenntnisse für die Realisierung eines Fusionsreaktors, der den zukünftigen Energiebedarf erzeugen könnte, ohne Folgegenerationen mit hoch radioaktiven Abfall zu belasten.
Der KWO-Reaktor wurde in der beschriebenen Weise noch 34 Mal nach den Revisionsphasen mit vergleichbarer Prozedur "kritisch", ehe das Kraftwerk am 11. Mai 2005 um 7.58 Uhr endgültig vom Netz ging.
Das Betriebsverhalten des Reaktors wurde in Studien-, Diplom- und Doktorarbeiten an verschiedenen Universitäten und Forschungszentren durch numerische Modelle nachgebildet und diente zur Verifikation der verwendeten kernphysikalischen Datensätze. In nationalen und internationalen Fachvorträgen wurde das physikalische Verhalten des KWO-Reaktors thematisiert, was zum guten Ruf des KWO in der Fachwelt beigetragen hat, schließt Dr. Sommer.