Von Philipp Weber
Weinheim. Einige Freunde und Angehörige des Angeklagten saßen schon im Saal, darunter die sichtlich mitgenommene Mutter. Die Anspannung in Teilen des Publikums war mit Händen zu greifen, doch die Fünfte Große Strafkammer unter dem Vorsitz von Olaf Rinio ließ sich Zeit. Die Richter hatten viele Aspekte abzuwägen, kamen dann aber doch zu einem Urteil, mit dem alle Seiten dem Vernehmen nach leben können.
Weil er am 27. Juli 2020 den Alldrink-Markt in der Weinheimer Weststadt überfallen, den Kassierer mit einem Messer bedroht und 1700 Euro erbeutet hat, ist ein 21 Jahre alter Mann am Montag vor dem Landgericht in Mannheim zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Der längst ausgegebene Betrag wird eingezogen, der Angeklagte muss die Kosten des Verfahrens tragen – und wird aufgrund seines Suchtproblems und der daraus folgenden Tat in einer Entzugseinrichtung untergebracht. Wenn er sich als kooperativ erweist, dürfte der bereits seit einem halben Jahr in U-Haft sitzende junge Mann aber weit weniger als dreieinhalb Jahre "hinter Gittern" bleiben. So schilderten es Prozessbeteiligte.
Der 21-Jährige nahm die Entscheidungen ohne erkennbare Regungen hin. Er hatte zuvor angegeben, den Raub begangen zu haben, um an Geld für THC-Produkte zu kommen. Nach Erfahrungen mit psychiatrischen Erkrankungen und Behandlungen in einer Wieslocher Klinik habe er befürchtet, ohne die Droge in eine Psychose abzurutschen (die RNZ berichtete).
Der psychiatrische Sachverständige, Professor Peter Gass, bestätigte, dass der Angeklagte ein Suchtproblem hat. Allerdings sei der 21-Jährige zum Zeitpunkt des Überfalls voll schuldfähig gewesen. Die psychotischen Zustände, die der Angeklagte befürchtet hatte, seien Folge des THC-Konsums und der dadurch hervorgerufenen Intoxikation. Die Abstinenz in den Tagen vor der Tat habe Entzugserscheinungen und Ängste verursacht – aber nicht die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten eingeschränkt.
Der 21-Jährige wusste also, was er tat, als er sich bereits am Vortag des Raubes ein Messer aus dem Haushalt seiner Großmutter besorgte, weitere Vorkehrungen traf – und den Alldrink-Markt auskundschaftete, ehe er zur Tat schritt. Ein "Palästinenserschal", ein dickes Joggingoutfit sowie die an der nahe gelegenen Bonhoeffer-Schule bereitgelegten Wechselklamotten sollten eine Entdeckung durch die Polizei verhindern. Letztlich trickste sich der Angeklagte jedoch selbst aus, da er eine Cola-Dose zurückließ. Darauf befand sich der Abdruck seines Zeigefingers, der die Ermittler zu dem Vorbestraften führte.
Das Motiv sah der Sachverständige dagegen eindeutig im Drogenkonsum des Angeklagten. Ein entscheidender Punkt, der laut Vorsitzendem Richter Rinio auch die Kammer lange beschäftigte, war die Wiederholungsgefahr: Wären weitere Überfälle zu befürchten, wenn der Angeklagte nicht wegkommt von den Drogen? Der Sachverständige sah durchaus das Risiko, dass noch mehr Fälle von Beschaffungskriminalität folgen. Weitere Überfälle wollte er jedoch nicht eindeutig prognostizieren.
Spätestens in den Plädoyers drehte sich schon alles um die nächste Abwägungsfrage: Man war sich zwar einig, dass ein Fall von besonders schwerer räuberischer Erpressung vorliegt, der qua Gesetz eigentlich mit mindestens fünf Jahren Haft geahndet wird. Doch während die Anklage eine Haftstrafe von fünf Jahren und acht Monaten beantragte, plädierte Verteidigerin Brigitte Bertsch auf einen minder schweren Fall. Ihr Antrag: Zweieinhalb Jahre Haft. Die Kammer ließ ebenfalls mildernde Umstände gelten. "Die Tat war deshalb aber keine Lappalie", stellte Richter Rinio klar. Aber: Der Angeklagte habe den Raub vollständig eingeräumt, nicht beschönigt und sich glaubhaft bei dem jungen Kassierer entschuldigt. Abhängigkeit rechtfertige zwar keine Straftaten, aber die Kammer berücksichtige doch, dass es kein Raub aus reiner Habgier war. Ins Gewicht fiel auch, dass der Angeklagte kaum dem Jugendstrafrecht entwachsen ist, die Vorstrafen geringfügiger Natur sind – und dass die angestrebte Langzeittherapie gegen seine THC-Sucht der erste Anlauf ist. Belastend wirkte sich dagegen die stattliche Beute aus. Ebenso wie die Tatsache, dass der 21-Jährige bereit sei, von seiner körperlichen Kraft und (weiteren) Tatwerkzeugen Gebrauch zu machen, so Rinio. Die Kammer erkannte zudem ein Rückfallrisiko: Weitere räuberische Aktivitäten seien nicht auszuschließen, wenn der Angeklagte nicht aufhört, Drogen zu nehmen. So fiel die Entscheidung: Dreieinhalb Jahre Haft. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Update: Montag, 8. Februar 2021, 20.41 Uhr
Vermummter Jogginganzug-Mann wird durch Cola-Dose überführt
Von Philipp Weber
Mannheim/Weinheim. Der 27. Juli 2020 ist ein heißer Tag. Dennoch schöpft der Verkäufer keinen Verdacht, als ein junger Mann in einem viel zu warmen Joggingoutfit den All-Drink-Markt in der Weinheimer Weststadt betritt. Der Mann hat sein Gesicht vermummt, grüßt nicht. Doch der Getränkefachhandel hat öfter Kunden, die sich nicht lange aufhalten – außerdem hat die "Alltagsmaske" zu dieser Zeit Hochkonjunktur, damals reicht ein Schal vor dem Gesicht. Was dann geschieht, ist seit vergangener Woche Gegenstand einer Hauptverhandlung vor der Fünften Großen Strafkammer des Mannheimer Landgerichts. Dort muss sich ein 21 Jahre alter Weinheimer wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung verantworten.
Denn nach übereinstimmenden Angaben der Prozessbeteiligten hat der 21-Jährige den Getränkehandel nicht aufgesucht, um sich eine Erfrischung zu besorgen. Zwar nimmt er zunächst eine Dose Cola aus dem Kühlschrank und geht zur Kasse. Doch als diese sich öffnet, zieht er ein Küchenmesser – und deutet mit der Klinge auf den Verkäufer. Der stopft nach entsprechender Aufforderung Geldscheine im Gesamtwert von rund 1700 Euro in eine Plastiktüte, die der mutmaßliche Räuber bereithält. Dann flüchtet der Täter über Fußwege auf das Gelände einer nahe gelegenen Schule.
Obwohl eine junge Mutter ihn vor und nach dem Raub sieht, verläuft die Fahndung der Polizei negativ: Der geständige 21-Jährige gibt vor Gericht an, Vorkehrungen getroffen zu haben. So behält er sein Joggingoutfit nicht an, sondern wechselt auf dem Schulgelände die Kleidung. In Sommerkleidung läuft er weiter in Richtung Waidsee. Rund ein halbes Jahr später geht die Kammer unter dem Vorsitz von Richter Olaf Rinio das Geschehen in allen Details durch: Der Verkäufer, die junge Mutter sowie mehrere Polizisten werden in den Zeugenstand gerufen.
Über die Hintergründe der Tat sprechen zunächst der sichtlich nervöse und aus der U-Haft vorgeführte Angeklagte sowie seine Verteidigerin Brigitte Bertsch. Die Einordnung durch Gutachter Professor Peter Gass, Oberarzt am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, steht indes noch aus.
Den vorliegenden Angaben zufolge hat 21-Jährige im Juli 2020 zwei abgebrochene Berufsausbildungen, Erfahrungen mit Drogen (in erster Linie THC-Produkte) sowie Aufenthalte im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch hinter sich. Nicht nur wegen der Drogen gibt es bereits Berührungen mit der Justiz: 2019 hat er sich vor dem Amtsgericht in Weinheim verantworten müssen, wegen gefährlicher Körperverletzung: Der große, kräftige sowie boxsporterfahrene Angeklagte hatte 2017 einem anderen jungen Mann auf dem Weinheimer Marktplatz Faustschläge an Kopf und Gesicht versetzt. Er wurde richterlich verwarnt und musste Auflagen erfüllen.
Seine Familie beschreibt er als konfliktbeladen. Am Tag des Raubes habe er kein Geld, kein Obdach, keine Ansprechpartner gehabt. Die aber hätte er gebraucht: Er habe unter Entzugserscheinungen gelitten: "Ich hatte Angst, wieder in eine Psychose abzurutschen und Selbstmordgedanken zu bekommen", beteuert er. Das Messer habe er sich aus dem Haushalt seiner Großmutter besorgt. Hier und da hakt der Richter nach: Wer bereits Psychiatrieerfahrung hat, müsse doch wissen, dass es Anlaufstellen gibt – auch in Weinheim, so Rinio. Zumal der Raub trotz allem gut vorbereitet war.
Doch das nützt gegen die Ermittlungsmaschinerie der Polizei wenig. So wird die Cola-Dose untersucht, die der mutmaßliche Räuber an der Kasse liegen lässt. Fingerspuren führen zum Angeklagten. Fahnder nehmen ihn noch im Sommer 2020 fest – in den Räumen der Wieslocher Klinik, die er zuvor erneut aufgesucht hat. Die 1700 Euro hat er da längst in Essen, Alkohol, Drogen und ein Hotelzimmer investiert. Immerhin bekommt der Verkäufer – ebenfalls ein junger, heute 22 Jahre alter Mann – noch eine Entschuldigung zu hören. Das Geschehen vom 27. Juli wirkt nach. Wenn Menschen grußlos den Laden betreten, sei er sehr aufmerksam, so der Geschädigte.