Von Marco Partner
Darmstadt/Heppenheim. Es war eine Verfolgungsjagd, die sich über 15 Kilometer zog. Als der 18-Jährige am späten Nachmittag des 30. Dezember 2018 kurz vor der Raststätte "Alsbach" zum Anhalten aufgefordert wurde, trat er aufs Gaspedal. Auf der Autobahn A5 versuchte er mit 180 "Sachen" der Zivilstreife zu entkommen. Er überholte links und rechts und bog dann überraschend auf den Parkplatz "Fuchsbuckel" bei Heppenheim ein.
Es kam zur folgenschweren Kollision mit einem geparkten Auto. Eine 39-jährige Mutter aus Düsseldorf starb nach dem Aufprall noch am Unfallort. Nun sitzt der 18-Jährige, der ohne Führerschein und gefälschten Kennzeichen unterwegs war, unter anderem wegen Mordes auf der Anklagebank. Am sechsten Verhandlungstag vor dem Darmstädter Landgericht geben vorgetragene WhatsApp-Protokolle einen weiteren Blick in die Gedankenwelt des Angeklagten. Da er seiner Mutter Schmuck gestohlen hatte, hing bereits der Haussegen schief.
Kurz vor Weihnachten wurde er zudem mit Freunden beim illegalen Autofahren erwischt. Die strafrechtliche Sanktion stand noch aus, die Quittung von Mutter und Stiefvater aber ließ nicht lange auf sich warten: "Ich habe kein Zuhause mehr. Schon wieder. Diesmal komplett", schrieb er einem Kumpel an Heiligabend und bat, bei ihm einzuziehen.
"Kurz gesagt: Schulden, keine Arbeit, Schwarzfahren und kein Zuhause mehr", fasste er das Ganze noch einmal zusammen. "Yep!", lautete die knappe Antwort.
Die Chat-Protokolle, sind im Prozess wichtige Indizien. Denn auch die Frage möglicher Suizid-Absichten muss durchleuchtet werden. "Was machst du jetzt?" Die Frage bekam der Angeklagte zwischen den Jahren häufig gestellt.
Wollte der 18-Jährige Selbstmord begehen?
Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Sie variieren zwischen "Untertauchen", "Wenn’s sein muss, auch Gefängnis aussitzen" bis zu "Bevor ich in den Knast geh‘, mach‘ ich Selbstmord!" In den Ohren der Verteidigung sind solche Drohungen ein Hilferuf, um auf die missliche Lage des 18-Jährigen zu verweisen und wirkliche Unterstützung zu bekommen.
Auch mit seiner Freundin chattet der Angeklagte in den 24 Stunden vor dem tragischen Unfall. Herzchen und Smileys werden ausgetauscht, aber auch Sorgen. "Baby, setz’ dich aber bitte nicht ans Steuer", bittet seine Geliebte, als sie ihm eröffnet, dass sie gemeinsam "sturmfrei" Silvester feiern können. Doch anstatt mit dem Zug zu fahren, fährt der 18-Jährige erneut ohne Führerschein mit dem Auto. Erst Hemsbach auf die Autobahn und dann die Flucht mit Vollgas vor der Polizeikontrolle.
Die Bitte der Verteidigung, einen weiteren verkehrsanalytischen Gutachter anzuhören, lehnt die richterliche Instanz ab. Der rechtliche Beistand argumentiert, der Angeklagte habe den alten Ford Focus - das ist der Unfallwagen - erst eine Woche zuvor für 100 Euro erworben und sei somit nicht gut mit dem Handling vertraut gewesen.
Der Audi A6 - der Wagen des Stiefvaters, mit dem der 18-Jährige ohne Erlaubnis Fahrpraxis sammelte, hätte aufgrund des Elektronischen Stabilitätsprogramms (EPS) und anderer Assistenztechniken wohl anders auf die abrupten Lenkmanöver reagiert. Dies sei jedoch ohne Bedeutung für die Schuld- und Rechtsfolge, betont der Richter.
Auch das Hinzuholen eines psychologischen Gutachters wird abgelehnt. Die Begründung der Strafkammer: Aufgrund der Chat-Protokolle, vor Gericht abgespielter Sprachnachrichten sowie den detaillierten Aussagen eines bereits einberufenen psychiatrischen Sachverständigen sei die seelische Situation des Angeklagten zur Tatzeit bereits ausreichend dokumentiert.