Statt günstige Mietwohnungen in Ballungszentren und Großstädten seien zu 85 Prozent Ein- und Zweifamilienhäuser auf der grünen Wiese gebaut worden, bemängelt der Nabu. Foto: dpa
Von Stefan Hagen, Martina Herzog und Teresa Dapp
Rhein-Neckar. Corona-Krise hin oder her: Die Nachfrage nach Wohnraum ist gewaltig in Deutschland. Doch es fehlt an Bauland, die Bodenpreise sind hoch. Vorschläge, wie mehr Fläche zu gewinnen wäre, machte vor einem Jahr die Bauland-Kommission der Bundesregierung. Eine Idee: die Erleichterungen zum Bauen am Ortsrand verlängern. Genau das hat das zuständige Innenministerium nun vor. Umweltschützer wollen das verhindern. Zwei Ziele der Politik prallen aufeinander: Wohnraum schaffen und den Flächenverbrauch senken.
Ende vergangenen Jahres lief eine Regelung im Baugesetzbuch aus, die den Wohnungsbau auf bis zu 10.000 Quadratmeter großen Flächen erleichtert, "die sich an im Zusammenhang bebaute Ortsteile anschließen". Sprich: am Ortsrand. In einem Verfahren nach diesem Paragrafen 13b ist keine Umweltprüfung notwendig. Es muss auch keinen Ausgleich für den Naturschutz geben. Das soll helfen, neuen Wohnraum zu schaffen. Aktuell kann die Regelung aber nur noch für Verfahren zur Aufstellung eines Bebauungsplans genutzt werden, die schon vergangenes Jahr förmlich eingeleitet wurden. Das Innenministerium will die Regelung nun bis Ende 2022 verlängern.
Dagegen läuft unter anderem der Naturschutzbund (Nabu) Sturm. "Ob in Gaiberg, Meckesheim oder Reichartshausen – in der ganzen Rhein-Neckar-Region schreitet der Flächenverbrauch ungebremst voran", heißt es in einer Mitteilung des Nabu-Bezirksverbandes Rhein-Neckar-Odenwald. Stein des Anstoßes ist für den Nabu der ominöse Paragraf 13b im Baugesetzbuch, der eigentlich zum 31. Dezember 2019 hätte auslaufen sollen. Seit 2017 hätten Kommunen aufgrund dieses Passus Bebauungspläne im Außenbereich im beschleunigten Verfahren beschließen können – ohne frühzeitige Bürgerbeteiligung, ohne einen verpflichtenden Ausgleich für die Natur und eine Umweltprüfung, heißt es in der Mitteilung weiter.
"Die Regelung sollte helfen, die drängende Wohnungsnot Geflüchteter zu entschärfen und unkompliziert neuen Wohnraum in Ballungsgebieten schaffen. Doch dieses Ziel hat Paragraf 13b krachend verfehlt", schimpft Christiane Kranz, Geschäftsführerin des Nabu-Bezirksverbands. Statt günstige Mietwohnungen in Ballungszentren und Großstädten seien zu 85 Prozent Ein- und Zweifamilienhäuser auf der grünen Wiese gebaut worden. Vor allem kleine Gemeinden mit begrenzten Personalkapazitäten und ohne akuten Wohnraumbedarf hätten den Paragrafen als bürokratische Erleichterung zur Ausweisung neuer Wohnbaugebiete genutzt. "Paragraf 13b beschleunigt die Zersiedlung und den Flächenverbrauch bei uns und im ganzen Land und gehört dringend abgeschafft, wettert Kranz. Wertvoller Boden gehe als Lebensraum und zentraler Bestandteil des Ökosystems verloren, was wiederum die Klima- und Artenkrise befördere.
"Wir fordern daher die Bundestagsabgeordneten auf, bei der Abstimmung zum Gesetzesentwurf der Baulandmobilisierung im Bundestag kommenden Herbst für eine nachhaltige Baupolitik und gegen Paragraf 13b zu stimmen", sagt die Nabu-Bezirksvorsitzende.
Anstatt Ende 2019 auszulaufen, solle der Paragraf jetzt längerfristig im Baugesetz verankert werden. "Welche Folgen dieser Flächenfraß hat, sieht man auch bei uns in der Region. Wertvolle, fruchtbare Ackerflächen und artenreiche Streuobstwiesen verschwinden unter Asphalt und Beton", zählt Kranz auf.
In den letzten drei Jahren seien in der Region Rhein-Neckar in 30 Orten Verfahren nach Paragraf 13b gestartet worden, die am Ende insgesamt über 50 Hektar Freifläche verschlingen würden", nennt Kranz weitere Zahlen.
Der Nabu fordere deshalb in seinem neuen Grundsatzprogramm, dass ab 2030 keine neuen Flächen mehr bebaut werden, wenn nicht gleichzeitig an anderer Stelle in mindestens derselben Größenordnung ein Ausgleich stattfinde, Flächen entsiegelt und an die Natur zurückgegeben würden. Diese Flächenkreislaufwirtschaft könne dabei helfen, Biotope wieder besser zu vernetzen. Aktuell würden landesweit jeden Tag immer noch 4,5 Hektar unbebauter Fläche für Straßen, Häuser und Gewerbegebiete neu versiegelt. "Von einer nachhaltigen Entwicklung und der Netto-Null beim Flächenverbrauch ist das Land damit noch weit entfernt. Paragraf 13b stellt einen Widerspruch zu diesen Zielen dar und gehört deshalb dauerhaft gestrichen. Wir müssen uns mehr anstrengen, um unsere schöne Kulturlandschaft, unsere Felder und Wiesen zu erhalten", fordert Kranz.
Aber auch der Naturschutzbund bekommt Gegenwind: "Wir brauchen Planungs- und Baubeschleunigung, um zügig mehr Wohnraum zu schaffen", sagt etwa der Präsident des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA), Andreas Mattner. "Paragraf 13 b Baugesetzbuch ist dafür ein guter Hebel." Er will sogar eine Verlängerung bis 2032. "Auch wir wollen natürlich Flächenfraß vermeiden und begrenzen. Daher ist Nachverdichtung und die Nutzung von Brachflächen wichtig." Der Verband arbeitet an einem Konzept.
Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund hofft, dass der Paragraf in die Verlängerung geht. "Diese Norm hat sich bei Städten und Gemeinden, insbesondere zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums, bewährt. Eine Verlängerung der Regelung würde den ’kommunalen Instrumentenkasten’ zur Schaffung bezahlbaren Wohnraums in Städten und Gemeinden sinnvoll erweitern", heißt es in einer Stellungnahme. Eine "ausufernde oder gar ungesteuerte Entwicklung" im Außenbereich von Ortschaften sei nach den Erfahrungen nicht zu erwarten – Vorgaben gäbe es ja weiterhin. Der Naturschutzbund will laut Kranz jedenfalls nicht tatenlos zusehen. Um die Verlängerung des Paragrafen 13b zu verhindern, beteilige sich der Nabu gemeinsam mit mehreren Zehntausend Naturschutzaktiven an einer Petition gegen den Flächenfraß. Insgesamt sollen 50.000 Nachrichten an den Bundestag geschickt werden. Bis Mittwoch, 12.40 Uhr, sind davon bereits 26.715 verschickt worden.
Info: Die Petition "Stoppt den Flächenfraß!" findet man im Internet unter der Adresse https://mitmachen.nabu.de/flaechenfrass