"Es geht nicht darum, welchen Glauben wir haben, sondern darum, was wir können", sagt Merve Gül. Foto: Gerold
Von Heike Warlich-Zink
Mannheim/Schwetzingen. Als Merve Gül Mitte Dezember einen großen Umschlag mit dem Absender "Bundespräsidialamt" im Briefkasten vorfand, da ahnte sie nicht, welche Nachricht ihr da zugestellt wurde. "Es handelte sich um eine Einladung zum Neujahrsempfang im Schloss Bellevue in Berlin. Das fand ich mal grundsätzlich interessant", erzählt die 24-jährige Studentin der Rechtswissenschaften rückblickend.
Vor allem deshalb, weil in dem Schreiben mitgeteilt wurde, dass neben Repräsentanten des öffentlichen Lebens rund 70 Bürger aus allen Bundesländern geladen seien, die sich um das Gemeinwohl besonders verdient gemacht hätten. "Ich nutze gerne die Möglichkeit, andere Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, kennenzulernen und mich mit ihnen auszutauschen", sagt sie. Die Mannheimerin fand den Termin durchaus reizvoll und sagte zu.
"Richtig begriffen, dass ich vom Bundespräsidenten für mein eigenes persönliches Engagement im ,Zahnräder’- Netzwerk ausgezeichnet werden soll, habe ich eigentlich erst bei der Infoveranstaltung vor Ort, als wir auf den Ablauf des Neujahrsempfangs mitsamt Defilee und Urkundenübergabe vorbereitet wurden", sagt sie. Es war nicht das erste Mal, dass man auf die junge Frau aufmerksam wurde. Vergangenen Juni hielt sie auf Einladung der Landesregierung beim gemeinsamen Fastenbrechen von Muslimen und Nicht-Muslimen im Schwetzinger Schloss nach dem Ministerpräsidenten eine vom Publikum mit viel Applaus bedachte Rede.
"Möglich, dass mein Name dadurch in die Auswahlliste für Berlin gelangt ist", sagt Gül, die auch in Schwetzingen authentisch für die Generation junger Muslime stand, die ganz selbstverständlich ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Einer Gesellschaft, die ihrer Ansicht nach aufgrund ihrer Vielfalt erst spannend wird und über Kreativität und das Talent des Organisierens gemeinsame Verbindungen schafft.
Kreativität und Talent verbinden, das wollen auch die "Zahnräder", eine Anfang 2010 von jungen Muslimen gegründete bundesweite Plattform, die mittlerweile in allen Bundesländern aktiv ist. Es sollen Verbindungen geschaffen, Wissen ausgetauscht und Kompetenzen zusammengeführt werden. Zahnräder, die im Idealfall so ineinander greifen, dass soziale Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln gelöst werden können. "Wir sind alle Muslime, allerdings geht es bei den ,Zahnrädern’ nicht um den muslimischen Lebensstil, sondern einzig um die Frage, wie wir uns positiv in die Gesellschaft einbringen können", berichtet Merve Gül.
Im Jahr 2012 hat sie von dem Netzwerk erfahren, seit 2014 hat sie ihre Aufgabe darin gefunden, die interne Kommunikation sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu betreuen. Einmal im Jahr kommen die mittlerweile über 100 aktiven "Zahnräder" bei einer Bundeskonferenz zusammen: angehende Akademiker und junge Unternehmer, die ihre Ideen oder bestehende Projekte vorstellen. Bereits laufende Konzepte finden dabei ebenso Unterstützer wie noch nicht realisierte Vorhaben. Wer die Jury dabei besonders überzeugt, erhält sogar ein kleines Preisgeld als Anschubfinanzierung. "Eines dieser Gewinnerprojekte hatte zum Ziel, ein Netzwerk an verlässlichen Begleithilfen für blinde Menschen zu schaffen, damit diese ihren Alltag bewältigen können", erzählt Merve Gül.
Beeindruckt hat sie persönlich die ebenfalls ausgezeichnete Initiative "Deaf Islam", die sich mit Unterstützung der "Zahnräder" für gehörlose Muslime einsetzt, um ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und zugleich Brücken zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen schlägt.
"Es geht nicht darum, welchen Glauben wir haben, sondern darum, was wir können", sagt die junge Frau. "Muslime wollen nicht nur über den Islam reden, sondern sich mit ihren Fähigkeiten einbringen. Viele verfügen über Spezialistenwissen", erzählt sie und nennt beispielsweise eine im Netzwerk Engagierte, die sich ausgiebig mit Tierethik befasst.
Die Auszeichnung durch den Bundespräsidenten habe sie darin bestärkt, das Richtige zu tun. Der Besuch im Schloss Bellevue wird Merve Gül auch deshalb unvergesslich bleiben, weil sie neben dem Bundespräsidenten viele Repräsentanten des öffentlichen Lebens wie den Generalbundesanwalt oder den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes aus nächster Nähe gesehen hat.
Das Zusammentreffen mit den übrigen Ausgezeichneten, "die sich fast alle viel länger engagieren als ich überhaupt auf der Welt bin", hat sie beeindruckt. Das seien Vorbilder. "Und es ist wichtig, dass deren Arbeit gewürdigt wird. Wenn auch nicht mit einem Bundesverdienstkreuz, so doch öffentlich im Namen von Deutschland", findet sie.