Naturdenkmal mit Charakter: Der Maulbeerbaum am Jüdischen Friedhof ist schätzungsweise 250 Jahre alt. Der Stamm ist zwar gebrochen und ausgehöhlt, trotzdem fühlt sich der Baum aus China in Mannheim pudelwohl. Foto: Gerold
Von Olivia Kaiser
Mannheim. Auf den ersten Blick sieht er ein bisschen unscheinbar aus. Mannheims vermutlich ältester Baum ist nicht besonders hoch gewachsen und hat auch keinen besonders dicken Stamm. Aber wer ihn näher betrachtet – oder besser gesagt den Blätterwald betritt – wird nicht enttäuscht. Der Maulbeerbaum ist circa 250 Jahre alt und steht vor dem Jüdischen Friedhof an der Feudenheimer Straße. "Das ist ein Schätzwert", betont der stätische Baumsachverständige Markus Offenloch. "Das genaue Alter können wir nicht bestimmen."
Allerdings gibt es Hinweise: Kurfürst Carl Theodor, der von 1743 bis 1778 die Kurpfalz regierte, ließ im großen Stil weißfruchtige Maulbeerbäume aus China anpflanzen, um mit der Herstellung von Seide ganz groß durchzustarten. Die Blätter des Baums dienten als Futter für die Seidenraupen. Besonders rentabel erwies sich die Idee des Kurfürsten zwar nicht. Dafür stehen heute einige Maulbeerbäume nahe des Neckars – unter anderem auf der Maulbeerinsel. Außerdem lässt der Umfang des Baums Rückschlüsse auf das Alter zu. Und dann existiert ein Kupferstich des Kirchengrundstücks, auf dem der Baum zu sehen ist.
Am Strandbad in Neckarau gibt es noch eine Eiche, deren Alter Offenloch ebenfalls auf circa 250 Jahre schätzt. Doch ältere Bäume gibt es auf Mannheimer Gemarkung nicht. Dabei sind 250 Jahre für einen Baum noch kein echtes Greisenalter. Offenloch vermutet, dass der Baumbestand in früheren Zeiten durch Kriegszerstörungen und Abholzung dezimiert wurde.
Unterm Blätterdach: Neue Triebe aus einst abgebrochenen Ästen ließen einen Mikrowald entstehen. Foto: GeroldDer Maulbeerbaum am Jüdischen Friedhof gehört zu seinen Lieblingen. Nicht weil er zu den ältesten auf der Gemarkung zählt, sondern weil er "Charakter" hat. Das sieht man sofort, wenn man sich unter den bis fast auf den Boden reichenden Blätterwald wagt. Dort ist es angenehm ruhig und kühl, den Verkehrslärm schluckt das dichte Laub. Im Lauf der Jahre hat der Baum stark ausgetrieben, sodass er in die Breite gegangen ist. Die Rinde von Maulbeerbäumen hat tiefe Furchen, manche Äste sind dick mit Moos bewachsen, und überall kommen frische Triebe zum Vorschein. Man steht nicht unter einem Baum, sondern in einem Mikrowald. Eigentlich möchte man sofort eine Hängematte aufspannen und es sich gemütlich machen. Doch das würde Markus Offenloch bestimmt nicht gern sehen, immerhin handelt es sich seit 1983 um ein Naturdenkmal – auch wenn die Plakette mal wieder abhanden gekommen ist.
Der Stamm des Morus alba –so die lateinische Bezeichnung für Maulbeerbaum – hat vom Boden einen Umfang von 4,60 Meter, eine Kronenhöhe von zehn und einen Durchmesser von 30 Metern. 2012 brach aufgrund von Fäulnis der obere Teil des Hauptstamms ab, deshalb ist der Baum nur zehn Meter hoch, der Stamm hohl. "Viel höher sollte er auch nicht werden, sonst bricht er wieder", erklärt Offenloch. Zuvor sind auch andere Starkäste aus dem Baum gebrochen, die mittlerweile selbst Wurzeln geschlagen haben. Aus ihnen sind wieder junge Triebe gewachsen, so kommt der Maulbeerbaum zu seinen beeindruckenden Ausmaßen.
Naturdenkmal mit Charakter: Der Maulbeerbaum am Jüdischen Friedhof ist schätzungsweise 250 Jahre alt. Der Stamm ist zwar gebrochen und ausgehöhlt, trotzdem fühlt sich der Baum aus China in Mannheim pudelwohl. Foto: GeroldAußerdem fühlen sich auch andere Gewächse in seiner Nähe wohl: Der Efeu rankt sich um die Äste, und nahe des Hauptstamms wächst ein junges Holunderbäumchen. Manche der dicken Äste sind mit Holzbohlen abgestützt. Metallstangen eintreiben oder Seile spannen, will der Baumsachverständige nicht. "Dem Baum geht es gut, auch wenn der Stamm hohl ist", erklärt Markus Offenloch. Das sehe man an den schönen grünen Blättern und der Wachstumsfreudigkeit des Maulbeerbaums. Wichtig sei, dass ein Baum stand- und bruchsicher ist, sodass keine Gefahr von ihm ausgeht.
Markus Offenloch lässt der Natur ihren Lauf. Nur circa alle drei Jahre wird gestutzt, Efeu und Moos entfernt. Die Baumpflege hat sich im Lauf der Jahre verändert: In den 1970er-Jahren habe man Bäume noch "baumchirurgisch" behandelt, erzählt Offenloch, um so Pilzbefall zu "heilen". "Der betroffene Teil des Baums wurde ausgefräst und dann versiegelt", erklärt der 52-Jährige. Doch die Methode habe nicht wirklich etwas gebracht.
Der älteste Baum einer Stadt muss also nicht unbedingt der höchste sein oder einen besonders dicken Stamm haben. Im Unteren Luisenpark steht zum Beispiel eine besonders imposante Platane – die ist laut Offenloch aber nur 150 Jahre alt.