Eigentlich ist Hans Jörg Staehle Professor für Zahnmedizin an der Uni-Klinik. Foto: Hentschel
Von Denis Schnur
Heidelberg. Eigentlich mag Hans Jörg Staehle die Stadt Pirmasens. So sehr, dass der Heidelberger in den letzten drei Jahren an die zehn Mal in seiner Freizeit dorthin gefahren ist. So sehr, dass der Professor für Zahnmedizin sogar ein Buch über die pfälzische Kleinstadt geschrieben hat. So sehr, dass er gleich von der "wirklich ganz besonderen Stadt" spricht, wenn man ihn fragt.
Das Problem? Seit März mögen die Pirmasenser den Heidelberger nicht mehr. Bernhard Matheis, Oberbürgermeister des 40.000-Einwohner-Städtchens, legte Staehle in einem offenen Brief nahe, sein Buch in der "öffentlichen Toilettenanlage hinter dem Rathaus" in Pirmasens vorzustellen. Die Lokalzeitung hat sich über ihn ausgelassen, unterstellt ihm Beleidigung. Leserbriefschreiber wettern gegen ihn, bei Facebook nannte ihn einer einen "ungezogenen unverschämten Knaben". Sein Buch "Pirmasens - Eine deutsche Stadt kämpft um ihre Zukunft" wird in der dortigen Buchhandlung in einem Schränkchen versteckt.
Doch wie kam es soweit? Dazu muss man wissen, dass Staehle in seiner Freizeit zwar gerne Bücher schreibt - vor allem über Städte -, dass diese aber ganz anders sind als Reise- oder Heimatführer. Denn Staehle sucht gezielt nach den hässlichen Seiten einer Stadt. Das hat er 2015 mit seiner Wahlheimat getan ("Heidelbergs Roman Tic"), das hat er im Anschluss mit einer der ärmsten Städte Deutschlands gemacht.
Er habe sich Pirmasens in seinem Werk mit einer Mischung aus Mitgefühl, Gleichgültigkeit, Sarkasmus und Satire genähert, sagt Staehle selbst. Die erste Hälfte besteht jedoch aus Bildern, die - meist grau in grau - Stadtansichten zeigen, oft mit bissigen Kommentaren des Autors. Man sieht verfallene Häuser, geschlossene Geschäfte, eine zerrissene Flagge - mit dem Satz: "Die Fahne passt sich harmonisch dem Stadtbild an." Im zweiten Buchteil fehlen Bilder völlig, dafür schreibt Staehle auf, was ihm in Pirmasens so aufgefallen ist - teils als Satire, teils mit ernstem Interesse.
In der ehemaligen "Schuh-Metropole", meint er, habe man die eigene Geschichte nicht wirklich aufgearbeitet. So sei zwar das Schuh-Museum spannend, "aber da wird mit keinem Wort erwähnt, dass die ihre Schuhe in der NS-Zeit an KZ-Insassen ausprobiert haben". Und während in Herxheim über die Hitler-Glocke gestritten werde, lebe man in Pirmasens offenbar gut mit einer Glocke, auf der steht: "Gegossen im Jahr der nationalen Erhebung 1933". "Da hat der Pfarrer gesagt, das sei keine politische Botschaft und damit war die Diskussion vorbei."
Nun haben die bisherigen Werke Staehles nicht gerade hohe Wellen geschlagen. Ähnlich wie seine Bücher über Heidelberg wäre auch sein neues Werk wohl etwas für Kenner geblieben, hätte nicht der Pirmasenser Oberbürgermeister interveniert. Denn während die Heidelberger laut Staehle "souverän und freundlich" reagiert hätten, machte das Stadtoberhaupt das Thema groß. So groß, dass das Buch demnächst sogar in der zweiten Auflage erscheint. Im offenen Brief bezeichnet OB Matheis Staehle ironisch als "Humboldt des 21. Jahrhunderts", sein Buch als "Meilenstein genreübergreifender Literatur". Zum Schluss lädt er ihn zur Buchvorstellung ein - in besagte Toilettenanlage.
Der Heidelberger nimmt die - wie er es nennt - "verschnupfte Reaktion" gelassen. "Als OB würde ich das vielleicht anders machen", sagt er nur. Überrascht habe sie ihn schon gar nicht: "Das ist genau das, was ich im Buch geschrieben habe." Und tatsächlich gibt es darin ein ganzes Kapitel mit der Überschrift "Was die Pirmasenser Volksseele heute zum Kochen bringt". Dort ist etwa zu lesen, wie der Oberbürgermeister schon einen Beitrag von Spiegel-TV über Kinderarmut in seiner Stadt massiv kritisiert hatte.
"Viele Pirmasenser sind schnell dabei, Aufklärung als Denunziation wahrzunehmen", erklärt Staehle. Er vermutet: "Die Stadt hat ein Problem mit ihrer Selbstwahrnehmung." Er rät, "einfach mal Kritik zuzulassen. Das würde helfen". Deshalb habe er dem OB eine öffentliche Diskussion zum Buch vorgeschlagen. Und mit einem Augenzwinkern erklärt er: "Wenn die dann in der Toilette stattfindet, bringe ich eben Mundschutz und Desinfektionsmittel mit."