Der Tag, an dem der Krieg zurückkehrte
Gertraud Kühn-Neitzel verlor durch eine verhängnisvolle Explosion ihren Bruder. Nun erinnert eine Gedenktafel an das Unglück in der Weststadt.

In der Nähe des Bergfriedhofs tötete eine Explosion am 26. Juni 1945 Volkmar Kühn. Nun erinnert eine Gedenktafel an das Unglück. Die Idee dazu hatte Volkmars Schwester, Gertraud Kühn-Neitzel (links oben). Fotos: Rothe (2)/privat (2)
Von Philipp Neumayr
Heidelberg. Heidelberg war ihr Zufluchtsort. Hier, so dachten sie, seien sie sicher. Hier müssten sie keine Angst mehr haben. Ganz anders als in Mannheim, wo die Bomben regelmäßig und ohne Erbarmen auf ihr Pfarrhaus fielen. Doch dann kam dieser Tag im Sommer, wenige Wochen, nachdem die Alliierten Nazideutschland befreit hatten. Nachdem amerikanische Soldaten die Freiheit an den Neckar gebracht hatten - und niemand daran dachte, dass der Krieg noch einmal zurückkehren könnte. Schon gar nicht die Familie Kühn.
Es ist der 26. Juni 1945, "Mittagszeit und glühend heiß", erinnert sich Gertraud Kühn-Neitzel. Ihre Mutter ist auf der Beerdigung eines Bekannten. Ihr Bruder Volkmar und sein Freund Johannes wollen sie abholen. Die beiden machen sich auf den Weg zum Bergfriedhof. Sie sind fast da, stehen in der Nähe des Eingangs, als ihre Körper plötzlich von einer Explosion zerrissen werden. Kurze Zeit später verlässt die Mutter den Friedhof. Dort sieht sie die Fetzen des karierten Hemdes von Volkmar in den Bäumen hängen.

In der Nähe des Bergfriedhofs tötete eine Explosion am 26. Juni 1945 Volkmar Kühn . Fotos: Rothe (2)/privat (2)
So oder so ähnlich muss es gewesen sein. "Wie genau das Ganze abgelaufen ist, wissen wir nicht", sagt Kühn-Neitzel. Die 81-jährige Mannheimerin vermutet: Auf der kleinen Brücke zu Beginn des Steigerwegs seien ihr Bruder und sein Freund in der Nähe eines amerikanischen Soldaten stehen geblieben. Dieser habe wohl auf Munitionskisten gesessen, die von den Deutschen beschlagnahmt worden waren, während er den Zugverkehr an der Bahnlinie kontrollierte. "Ich nehme an, dass der Soldat mit seinem Gewehrkolben auf die Kiste klopfte und so die Detonation auslöste."
An den Tag des Unglücks kann sich Kühn-Neitzel, damals sechs Jahre alt, noch gut erinnern. "Ich saß unten auf der Straße, vor unserem Haus in der Häusserstraße. Irgendwann kam meine Mutter mit meinen anderen Brüdern Otto und Gerhard, die sie gestützt haben. Ihre Miene war wie versteinert." Sie selbst habe zunächst gar nicht glauben können, dass ihr Bruder tot sei. "Wir Geschwister waren immer zusammen gewesen. Es war wie ein Schock."

Gegenüber erinnert nun eine Gedenktafel an das Unglück. Fotos: Rothe (2)/privat (2)
Das Unglück hat ihre Familie nie richtig verwunden. Volkmar sei so etwas wie das Vorzeigekind unter den vier Geschwistern gewesen. "Er war die Hoffnung der Familie, der Begabteste, immer gut in der Schule." Ihre Mutter, sagt Kühn-Neitzel, sei nach seinem Tod traumatisiert gewesen, geradezu blockiert. "Sie hat nie mehr darüber gesprochen." Erst kurz vor ihrem Tod, als sie eines Morgens beim Frühstück saß, sei es aus ihr herausgebrochen: "Mein Kind, mein Kind!" Auch ihr Vater zeigte nach außen keine Gefühle. "Er hat uns mehr oder weniger gesagt, dass der Herrgott Volkmar genommen hat und wir damit zurechtkommen müssen."
Irgendwie musste das Leben weitergehen. Einige Monate danach kehren die Kühns nach Mannheim zurück. In die Stadt, aus der sie drei Jahre zuvor vor den Bomben geflüchtet waren. Der Vater, Pfarrer Erich Otto Kühn, gründete im Stadtteil Neckarau das Bach-Gymnasium, Tochter Gertraud zog es Anfang der sechziger Jahre nach Flensburg, wo ihr Mann bei der Marine Arbeit fand.
Erst irgendwann im letzten Jahr, als Kühn-Neitzel, mittlerweile pensionierte Lehrerin, die familiären Dokumente durchstöberte, kam sie auf die Idee, ihrem großen Bruder, der die Welt so klein verließ, eine Art Denkmal zu setzen. Monatelang verhandelte sie mit der Stadt Heidelberg, schrieb zahlreiche Briefe an Tiefbauamt und Bürgermeister - zunächst ohne Erfolg. Doch ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus.

Das Foto rechts oben zeigt Gertraud (Mitte) mit Volkmar (rechts) und ihren zwei anderen Brüdern. Fotos: Rothe (2)/privat (2)
Und so steht Kühn-Neitzel an einem sonnig-heißen Tag Ende Juli auf der Steigerweg-Brücke, an der Böschung zu den Bahngleisen. Dort, wo ihr Bruder stand, als der Krieg für einen verhängnisvollen Moment zurückkehrte. Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Brücke, hängt jetzt eine kleine Tafel aus Messing, gewidmet Volkmar und seinem Freund Johannes. "Wir sind sehr dankbar, dass es diese Gedenktafel nun endlich gibt." Dass sie die Tafel so schnell zu Gesicht bekommen hat, ist einem traurigen Umstand geschuldet: Der Tod ihres anderen Bruders Gerhard. Doch einige Tage zuvor, erzählt Kühn-Neitzel, habe sie Gerhard noch im Krankenhaus anrufen können. "Als ich ihm von der Gedenktafel berichtet habe, hat er sich, denke ich, sehr gefreut."
Es scheint also, als habe die Tafel die Familie Kühn zumindest ein wenig mit dieser, ihrer Geschichte versöhnen können. Nur eines kann Gertraut Kühn-Neitzel immer noch nicht begreifen. Warum ausgerechnet Heidelberg? "Hier haben wir uns doch sicher gefühlt."