Heidelberg

Zeitzeugin erzählt von den Fremdarbeitern in der Schuhmacherwerkstatt

Johanna Strößenreuthers Vater wurde verwarnt, als "herauskam, dass wir ihnen Essen gegeben haben".

11.01.2022 UPDATE: 12.01.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 19 Sekunden
In der Schuhmacher-Werkstatt von Meister Müller waren im Krieg Fremdarbeiter beschäftigt. Als 1949 dieses Foto entstand, wurden auch Schuhe für die Amerikaner angefertigt. Im Vordergrund zu sehen: Johanna Strößenreuther und ihr Bruder, der Maß nimmt. Repro: Bechtel

Von Manfred Bechtel

Heidelberg. "In einem langen Leben kann man viel erleben", sagt Johanna Strößenreuther. Sie ist 91 Jahre alt und wohnt heute in einer Heidelberger Seniorenresidenz. Aufgewachsen ist sie in der Schlosserstraße in der Weststadt. Ihre Kindheit und Jugend fielen in schwere Zeiten: Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit. Das ist lange her, aber die Erinnerung ist lebendig. "Ich habe Arthrose, aber ich danke Gott, dass mein Kopf klar ist", sagt sie, wenn sie den Jüngeren erzählt, wie es damals war.

An ein Datum kann sich Strößenreuther noch ganz genau erinnern: an den 1. September 1939. Ein paar Tage zuvor hatte sie zu ihrem neunten Geburtstag ein schönes Kleid bekommen, von ‚Bleyle‘, damals eine bekannte Marke für Strickmoden. Als ihre Freundin auch so ein Kleid haben wollte, "sind wir in die Stadt, zum Kraus in der Hauptstraße. Als wir da drin waren, ertönte im Radio die Durchsage, dass der Krieg jetzt losgeht!"

Johanna Strößenreuther. Foto: bec

Die Soldaten an der Front und zunehmend die Gefallenen fehlten in der Heimat an allen Enden, Fremdarbeiter mussten bald ihre Plätze einnehmen: Kriegsgefangene und ausländische Zivilisten, die meisten waren zwangsverpflichtet. Zwischen 12.000 und 15.000 von ihnen lebten während des Zweiten Weltkriegs in Heidelberg. Viele waren primitiv untergebracht, schlecht ernährt und mussten hart arbeiten. Eingesetzt wurden sie in allen Bereichen, keineswegs nur in der Rüstungsindustrie. So auch in der Schuhmacherwerkstatt von Johanna Strößenreuthers Vater.

An diese Männer kann sich die Seniorin noch lebhaft erinnern. Als sie in der RNZ einen Artikel über Zwangsarbeiter las, rief sie spontan in der Redaktion an. Ihr Anliegen war es, mitzuteilen, dass es auch Leute gegeben hat, die geholfen haben – und: "Wir haben sie als Menschen behandelt!"

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Ungefähr zehn Zwangsarbeiter waren es ihrer Erinnerung nach im väterlichen Betrieb. Russen und Polen, ein Tscheche. Untergebracht waren sie laut Strößenreuther "in Baracken an der "Römerstraße Richtung Rohrbach auf der rechten Seite". "Sie sind morgens gebracht worden. Dort war auch eine Küche. Mittags mussten zwei dorthin und in den großen eisernen 40-Liter-Kannen ihr Mittagessen holen. Mein Bruder musste sie begleiten. Das war kein Essen, das war ein Fraß, wir haben immer gesagt, das sieht aus wie Spülbrühe. Richtig eklig!"

Ihr Vater war als Innungsmeister und Bezirksobermeister auch zuständig für die Schuhmacher in der ländlichen Umgebung von Heidelberg, wo die Nahrungsmittel nicht ganz so knapp waren. "Die Schuhmacher von dort haben mal ein Säckel Kartoffel gebracht oder Karotten und so. Dann hat meine Mutter für die Arbeiter abgezählt zehn Kartoffeln gekocht oder zehn Gelberüben. Die haben wir ihnen im Topf eingepackt bringen müssen. Wir haben nicht mehr gehabt als die, die haben halt einfach auch etwas gekriegt. Sie haben uns leidgetan. Es war schlimm, was passiert ist, man hat geholfen, wo es ging. Als herauskam, dass wir ihnen Essen gegeben haben, ist mein Vater verwarnt worden. Weil wir ihnen ein bisschen Essen geteilt haben!"

Die Mutter konnte sich auf Russisch mit den Fremdarbeitern unterhalten, denn sie war viele Jahre in Moskau aufgewachsen. Einer der Verschleppten war ihnen besonders ans Herz gewachsen. Er hieß Jakob und hatte zwei Söhne, 14 und 16 Jahre alt. "Die waren zuerst beim Bauer in einem Dorf irgendwo in der Nähe untergebracht. Mein Vater hat sich eingesetzt und hat auch fertiggekriegt, dass die zu ihrem Vater, also zu uns durften."

Was aus den Männern geworden ist, weiß Johanna Strößenreuther nicht. "Als der Krieg zu Ende war, durften sie alle gleich aufbrechen." Nach vielen Jahren habe einer mal geschrieben, der Tscheche vielleicht. Er wollte sehen, ob er nicht Rente bekäme, aber da sei der Vater schon gestorben gewesen.

Info: Zum Weiterlesen: Alice Habersack: Fremdarbeiter in Heidelberg während des Zweiten Weltkriegs. Heidelberg 2013, Buchreihe der Stadt Heidelberg XVI, Edition Guderjahn im Verlag Regionalkultur

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