Unbekanntes Terrain erkundet das Junge Theater mit seinem neuen Stück. Was hier entsteht, ist zu Beginn der Darbietung noch völlig offen. Screenshot: nako/RNZ-Repro
Von Natascha Koch
Heidelberg. "Ich will, dass mich jemand umarmt, wenn es draußen regnet": Diesen Satz wiederholte Schauspieler Leon Wieferich des Jungen Theaters wieder und wieder bei der Premiere des neuen Theaterstücks "Neuland". Im Hintergrund hört man ein paar Schüler kichern, sie haben ihr Mikrofon nicht ausgeschaltet. Zum ersten Mal im Lockdown hat das Junge Theater einen Weg gefunden, ein Theaterstück auch online zu präsentieren – und zwar so, dass Schauspieler und Publikum daran teilhaben können. Ausgedacht hat sich den Satz nämlich niemand vom Theater – in "Neuland" geben die Zuschauer den Ton an.
Für die Schauspieler des Jungen Theaters habe im Zuge der Corona-Krise eins besonders gefehlt: die Begegnung zwischen Schauspieler und Publikum. "Wenn Zuschauer ins Theater kommen, sehen wir sie und sie uns", sagt Nadja Rui, eine der Mitwirkenden. "Wir können auf sie reagieren, und das beeinflusst ja auch uns." Genau hier setzt "Neuland" an – über die Videokonferenzplattform Zoom sollen Schulklassen die Chance erhalten, Theater nicht nur zu beobachten, sondern auch digital selbst zu gestalten.
Zu Beginn des Theaterstücks werden alle Schüler aufgefordert, ihre Kameras anzumachen. Die fünf Schauspieler haben ebenfalls alle ihre Kameras eingeschaltet – sie stehen aber alle in separaten Räumen. Ein weiterer, sechster Bildschirm zeigt einen weißen Raum. Das sei das "Neuland". Die nächsten 90 Minuten würden alle zusammen gestalten und dort ihre Gefühle zum Ausdruck bringen. Das Endergebnis hängt dabei vollkommen davon ab, was die Schüler zusammen entwerfen – aus jeder Aufführung soll somit ein einzigartiges Projekt entstehen.
Nachdem die Schauspieler das Neuland geschildert haben, werden die Schüler in fünf verschiedene Räume, also kleinere Videokonferenzen, aufgeteilt. Jeder Raum beschäftige sich dabei mit einer anderen Kunstform: Klang, Bewegung, Figuren, Text oder Bild. Dort gehe es darum, den Schülern zu entlocken, was ihnen gerade wichtig ist.
Ein weißer Raum, den alle gemeinsam gestalten – „Neuland“ eben. 90 Minuten haben die Teilnehmenden, um hier zum Ausdruck zu bringen, was sie bewegt. Screenshot: nako/RNZ-ReproIm Anschluss sollen sie diese Stimmungen in Kunst umwandeln. In dem Raum "Bühnenbild" steht Katharina Rückl zum Beispiel vor einem großen Tisch mit Farben, Essen oder Werkzeugen, mit denen die Kinder ihre Gefühle bildlich darstellen sollen. Im Raum "Text" überlegen sie sich prägnante Sätze, die ihre Stimmungen widerspiegeln. Im Raum "Bewegung" erhält die Hauptfigur Anweisungen, wie sie sich im Raum bewegen soll.
Zunächst scheinen diese Entwürfe abstrakt und zusammenhangslos: Das Bühnenbild zeigt eine Sequenz von einem grünen Pinsel, der auf einer gelben Folie malt. Dazu kommen Sätze wie: "Ich will, dass mich jemand umarmt, wenn es draußen regnet" oder "Gib mir Essen, sonst werde ich aggressiv". Wie daraus ein Theaterstück entstehen soll, ist erst einmal unklar. Aber die Schauspieler versuchen sich daran.
Schauspieler Leon Wieferich übernimmt die Hauptrolle. Er sagt die Sätze auf, die sich die Schüler ausgedacht haben – einige verzweifelt und ängstlich, einige wütend und bedrohlich. Er bewegt sich im Einklang mit den gruseligen Klängen, die im Raum "Klang" entworfen wurden. Mal kauert er in der Ecke, mal ist er ganz nah an der Kamera. Mit dem Bühnenbild interagiert er auch.
Das Besondere dabei: Nichts davon hätte er vorher planen können. Die Geschichte fügt sich erst im Laufe des Stückes. Sie erzählt von einem Mann, der einsam ist, Hunger hat und Freunde sucht – und dabei fast durchdreht. "Theater ist nicht etwas, das nur auf der Bühne passieren kann", sagt Katharina Rückl. "Ich hoffe, dass die Schüler innerlich die Erfahrung mittragen, dass sie auch alle fähig sind, Kunst zu machen."