Brachte die Entwicklung der Moral einen evolutionären Vorteil? Atheist Richard Dawkins im Dialog mit Daniela Wakonigg in der Aula der Neuen Universität. Foto: Alexander Hoene
Von Michael Abschlag
Heidelberg. Von "heiligen Büchern" hält Richard Dawkins wenig. Der Evolutionsbiologe gilt als scharfer Religionskritiker, sein Buch "Atheismus für Anfänger" sorgte weithin für Aufsehen – und in evangelikalen Kreisen in den USA für Empörung. Nun sitzt er in der voll besetzten Neuen Aula der Universität und erklärt: "Man sollte seine Moral nicht aus der Religion ableiten."
Religion und Moral – es geht um die ganz großen Fragen an diesem Sonntagabend. Der 78-Jährige ist auf Einladung des Deutsch-Amerikanischen Instituts hier, und trotz Erkältung ist er sichtlich gut gelaunt. Mit trockenem Witz beantwortet Dawkins die Fragen von Moderatorin Daniela Wakonigg und die des Publikums, plaudert über biologische wie gesellschaftliche Evolution und erklärt, warum er eine Moral, die sich nur aus der Religion speist, sogar für bedenklich hält.
"Unsere Religionen sind archaisch, und sie kennen extrem harte Strafen", erläutert er und verweist auf Steinigungen für Ehebruch, die im Alten Testament gefordert werden und in manchen Regionen der islamischen Welt noch immer praktiziert werden. Nur zu schauen, welche Passagen heiliger Schriften mit dem heutigen moralischen Kompass vereinbar seien, sei unredlich. "Man kann sich bei einer Religion nicht die Rosinen herauspicken", so Dawkins. "Wir können nicht hergehen und sagen: Die Bergpredigt gefällt mir – den Rest ignoriere ich."
Deshalb plädiert er für eine von der Religion unabhängige Moral, basierend auf den Ideen des Humanismus und der Aufklärung. Immerhin billigt Dawkins den Religionen einen gewissen erzieherischen Effekt zu. "Wenn religiöse Menschen an einen Gott glauben, der sie Tag und Nacht im Blick hat, kann sie das davon abhalten, etwas Böses zu tun", sagt er. Allerdings sei das ein "denkbar schlechter Grund", das Richtige zu tun: "Ich sollte mich nicht aus Furcht vor Strafe anständig verhalten, sondern aus Überzeugung", findet er.
Woher aber kommt überhaupt das menschliche Moralempfinden? Dawkins verweist auf die "Goldene Regel", ein weitverbreitetes ethisch-philosophisches Prinzip, das üblicherweise in dem Satz "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu" zum Ausdruck gebracht wird. Die "Goldene Regel", so der Wissenschaftler, finde sich in leicht variierter Form in allen Kulturen auf der Welt, sie sei universell. "Sie ist ein Produkt der Evolution", sagt er. Dawkins zufolge war die Entwicklung von Moral ein evolutionärer Vorteil: "Die Menschen in der Frühzeit waren in kleinen Gruppen unterwegs, in denen sich die Angehörigen persönlich kannten, oft sogar miteinander verwandt waren", sagt er. "Da war es sinnvoll, nicht nur mein Überleben zu sichern, sondern auch das meiner Sippe und meines Stammes." Außerdem war Altruismus auch im eigenen Interesse: "Wenn ich anderen half, konnte ich damit rechnen, dass mir auch geholfen wird – Sozialverhalten war also evolutionär sinnvoll." Außerdem gebe es selbst in der Tierwelt so etwas wie Hilfsbereitschaft: Vampirfledermäuse etwa würden geschwächte Mitglieder ihrer Gruppe von ihrem Blut saugen lassen.
Für Dawkins ist sogar die Religion selbst evolutionär sinnvoll. Erstens bediene sie das Bedürfnis nach Autorität: "Unsere Vorfahren kamen aus den Steppen Afrikas, wo es viele Gefahren gab wie Löwen, Schlangen oder Krokodile", erklärt er. "Da war es gerade für Kinder sinnvoll, an eine höhere Instanz zu glauben, die einem verbot, in den Fluss mit den Krokodilen zu gehen."
Und zweitens bediene sie darüber hinaus auch noch das Bedürfnis nach Sinn: "Die frühen Menschen suchten nach Erklärungen für Naturphänomene wie Fluten oder Blitz und Donner", sagt er. "Die Menschen wollen Zusammenhänge sehen, selbst dort, wo es keine gibt. Deshalb glauben sie an übernatürliche Mächte." Auch dafür findet er ein Beispiel im Tierreich und verweist auf Versuche mit Tauben, die gelernt hatten, auf einen bestimmten Knopf zu drücken, um Futter zu bekommen. "Die Tauben machten das auch dann noch, als sie kein Futter mehr bekamen", erzählt Dawkins. "Sie haben sogar unterschiedliche Methoden gefunden, den Knopf zu drücken" – was ihn an die verschiedenen religiösen Bräuche und Traditionen auf der Welt erinnert. Um die Moral macht er sich deshalb keine Sorgen. Auf die Frage, ob sie sich auch zurückentwickeln könnte, meint Dawkins: "Ich glaube, dass wir uns als Gesellschaft eher weiterentwickeln."