Historiker Norbert Giovannini führte die Zuhörer in die Geschichte der jüdischen Familie Hochherr ein. Eine Geschichte, die bescheiden beginnt, über das Großbürgertum führt - und teilweise tödlich endet. Foto Rothe
Von Manfred Bechtel
Heidelberg. "Als sie noch zu Deutschland gehörten … und danach": So lautete das Thema am Sonntagnachmittag im jüdischen Kulturzentrum in der Häusserstraße. Der Historiker Norbert Giovannini erinnerte an jüdische Schicksale. Anlass war der Europäische Tag der Jüdischen Kultur, der gleichzeitig in rund dreißig Ländern stattfand: Jüdische Gemeinden, Gedenkstätten und Museen hatten zur Begegnung eingeladen, "Storytelling" war dabei das Motto: Die Schicksale der ermordeten und der vertriebenen Juden sollen weitererzählt werden und auf diese Weise auch dann noch im Bewusstsein bleiben, wenn keiner der Zeitzeugen mehr am Leben ist. Schließlich will der Tag auch dazu beitragen, das europäische Judentum, seine Geschichte, seine Traditionen und Bräuche besser bekannt zu machen und auf seine Beiträge zur Kultur unseres Kontinents hinweisen.
"Es wäre fahrlässig, so zu tun, als wäre dies nur ein historisches Thema. Es ist ein brennend aktuelles Thema!" Ehe sich Giovannini der Geschichte widmete, richtete er den Blick auf die Gegenwart: "Wir haben eine fürchterliche Diskussion, wenn es um Ausgrenzung geht. Wer entscheidet über das ‚Gehört nicht zu uns‘?" Was es bedeutet, zurückgestoßen, ausgeschlossen, exiliert zu werden, führte er am Beispiel von drei Familienbiografien aus der Region vor Augen.
Der Weg der Unternehmerfamilie Hochherr in das Großbürgertum beginnt bescheiden. Ihr Geschäft ist die Produktion von Tabakwaren in den Dörfern der Bruchsaler Gegend, ehe Bernhard Hochherr den Schritt nach Heidelberg wagt. Am Ende der Kaiserstraße, in der Nummer 78, entsteht ein eindrucksvolles Firmengebäude, ein Backstein-Klinkerbau, der vielen Heidelbergern heute als Betty-Barclay-Gebäude in Erinnerung ist. Der Betrieb floriert bis 1938, anschließend wird die Fabrik der Hochherrs aber zwangsverkauft an "arische Eigentümer". Dies brachte der jüdischen Familie einen gewaltigen Vermögensverlust ein. "Diese gesellschaftliche Schicht hat eine unglaublich hohe Identifikation mit Deutschland gehabt. Das ist ihr zum Verhängnis geworden", so Giovannini. Mit einer Ausnahme emigrieren die Familienmitglieder nach Amsterdam. Nach dem deutschen Einmarsch in Holland warten auf die Hochherrs vielfach Lager und Tod, nur wenigen gelingt die Ausreise.
Eine sehr deutsche Geschichte, so Giovannini, sei auch die eines Helmholtz-Lehrers - obwohl sie irgendwo in Litauen beginnt. In Sao Paulo, in Kiriat Bialik, Philadelphia, Jerusalem und Basel endet sie. 1868 verlässt Isak Basnizki als junger Bub von 15 Jahren seine litauische Heimat, in Deutschland lernt er anschließend das Tischlerhandwerk. Was folgt, ist ein Leben voller Arbeit: Aus dem wandernden Handwerksgesellen wird ein kleiner Möbel-Unternehmer in Odenheim bei Bruchsal. Ab 1912 wohnt Basnizki in der Heidelberger Weststadt. Die Lebenswege der Kinder lassen den sozialen Aufstieg erkennen, einige streben akademische Berufe an. Sohn Ludwig etwa studiert Mathematik und Naturwissenschaften und unterrichtet schließlich an der Vorgängerschule des heutigen Helmholtz-Gymnasiums, der Oberrealschule in der Kettengasse. Im Ersten Weltkrieg ist er Oberleutnant, erhält das Eiserne Kreuz. Nach 1933 folgen für Ludwig die üblichen Demütigungen, dann Beurlaubungen und schließlich der Zwangsruhestand. Das Konzentrationslager bleibt ihm jedoch erspart. Der Grund: Er präsentiert den Wachhabenden im Heidelberger Gefängnis nach der Pogromnacht seine Kriegsverwundung und das Ehrenkreuz. Als gebrochener Mann kommt er wieder nach Hause, bevor ihm über die Schweiz die Ausreise nach Brasilien gelingt. 1950 wird Ludwig Basnizki rückwirkend zum Oberstudienrat befördert. Er setzt sich in São Paulo zur Ruhe und widmet sich mathematischen Forschungen.
In die Altstadt, in die Untere Straße, führt die dritte Familiengeschichte: die der Rubinsteins. Sie gehören dem Milieu der einfachen Leute an. Gemeinsam mit anderen jüdischen Familien praktizieren die Rubinsteins die orthodoxe Frömmigkeit der "Polnischen", die sie abgrenzt von den großbürgerlichen Juden. Ihre Second-Hand-Geschäfte laufen gut in Zeiten, die schlecht sind. 1934 reist Vater Rubinstein nach Palästina, um die Ausreise der Familie vorzubereiten; unter den Orthodoxen ist der Zionismus verbreitet. Sohn Max, ein begeisterter Sportler, wird als "Judenbengel" in der Schule vom Sportlehrer benachteiligt, auf der Straße von Pimpfen beschimpft, im Geschäft der Eltern bleiben die Kunden weg. Im Oktober 1938 kommt ein Polizeibeamter vorbei: "Sie müssen Ihren Koffer packen. Schauen Sie, dass Sie wegkommen, es ist etwas im Busch!" Irgendwie schlagen sich die Rubinsteins nach Palästina durch. Max gelingt eine Karriere bis zum Kanzleileiter im israelischen Polizeiministerium. In den fünfziger Jahren kommt die Mutter dann zurück nach Heidelberg, um das demolierte Haus in der Unteren Straße zu verkaufen. Auch Max nimmt wieder Kontakt auf zu alten Schulkameraden und Sportfreunden. Sie alle freuten sich, wieder von ihrem Max zu hören. Er verstarb 2004 in Tel Aviv.