Ernüchterung statt Euphorie

Wie das Corona-Virus einer Heidelberger Uni-Absolventin die Perspektive stahl

In der Corona-Krise stellt kaum eine Firma Neulinge ein - Eine Betroffene berichtet

01.05.2020 UPDATE: 03.05.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 12 Sekunden
Ernüchterung statt Euphorie: Mirjam Lober hatte sich die Zeit nach ihrem Uni-Abschluss anders vorgestellt. Foto: Uni Heidelberg

Heidelberg. (RNZ) Jahrelang haben sie auf diesen Moment hingearbeitet, jetzt fürchten sie ihn: Wer kurz vor seinem Universitätsabschluss steht, steht in Corona-Zeiten oft auch kurz vor dem Nichts – so wie Mirjam Lober. Die 26-Jährige hat gerade ihren Master in Global History an der Uni absolviert und beschreibt die für sie neue Perspektivlosigkeit:

Mitte 20, Studienabsolventin, sucht …" – Was nach einer Annonce für spezielle Stunden klingt, ist in Zeiten von Covid-19 bittere Realität geworden. Wie habe ich mir die Zukunft in bunten Farben ausgemalt, habe Reisen quer durch Europa gebucht, eine Abschlussfeier geplant, meinen Lebenslauf neu aufgesetzt, mich auf Vorstellungsgespräche vorbereitet, nur um Mitte März festzustellen: Ich werde meine Masterarbeit, in die ich Monate liebevoller Textgestaltung einfließen ließ, nicht mal in gedruckter Form in

den Händen halten. Und nicht nur das: "Kurzarbeit", "Einstellungsstopp", "Geschlossen". Weder die klassischen Studijobs, wie Kellnern im Café, noch die heiß begehrten und auch unabhängig von Covid-19 schwer erreichbaren Volontariatsstellen scheinen mir zukünftig ein Einkommen zu sichern. Da stehe ich nun: Absolventin der Geschichtswissenschaften, jung und motiviert, aber ohne Perspektive.

Auch meine Kommilitonin Sarah (26 Jahre, Absolventin Politikwissenschaften) fragt sich, wie es weitergehen soll. Sie hatte das Jobangebot für den 1. Mai in der Tasche, der Vertrag war unterschrieben, der Umzug nach Berlin organisiert, der passende Stromanbieter ausgewählt. Dann kam der Anruf: Leider sei es aktuell nicht möglich, "Neulinge" einzustellen. Stattdessen wird Sarah ein neues Startdatum vorgesetzt: der 1. September. Doch wie soll sie nun eine Wohnung bezahlen, die sie sich – der Berliner Wohnungsmarkt ist schonungslos – hart erkämpft hatte, für die sie das Einkommen dringend benötigt? Ihre Antwort: "Ich bewerbe mich weiter, auf projektgebundene Jobs, die mich kurzfristig über Wasser halten. Alternativ werde ich die Zeit nutzen, um meine Spanisch-Kenntnisse auf ein C1-Niveau zu bringen."

Wie Sarah und mir geht es derzeit vielen – ganz unabhängig vom Studienfach. Max (27 Jahre, Ingenieurwissenschaften) plante nach seinem Abschluss eine Camping-Tour – Surfen, Sonne, Freiheit. Doch nun steht er vor geschlossenen europäischen Grenzen, ein Zustand, den sich kein Mittzwanziger jemals vorstellen konnte. Entmutigen lässt sich Max davon nicht: "Ich bin überzeugt, dass das nicht so bleiben wird. Dann geht’s eben nächstes Jahr an die Atlantikküste und dieses Jahr mit viel Glück an die Ostsee."

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Auch mein Freund Christian (25 Jahre, Maschinenbau) sitzt im selben Boot. Bereits während der Schreibphase seiner Masterarbeit hat er Bewerbungen an seine Traumarbeitgeber versendet. Doch nichts. Keine Rückmeldung. Verzögerungen im Bewerbungsablauf oder im schlimmsten Fall: die sofortige Absage. Nie platzte die schimmernde Seifenblase der Zukunft so schnell. "Viele Stellen werden schon gar nicht mehr ausgeschrieben," so Christian. "Nur einige Praktikumsplätze und Werkstudentenstellen mit keinem oder geringem Einkommen sind auf den Karriereseiten der Unternehmen noch zu finden."

Haben wir also Jahre und Unsummen investiert, um letztlich als Dauerpraktikanten oder Regaleinräumerinnen im Supermarkt unweit unseres Elternhauses zu enden? Nein, denn dieser Ausnahmezustand wird vorübergehen. Berufliche Türen werden sich wieder öffnen, wie europäische Grenzen. Und überhaupt, vielleicht müssen wir einfach das Positive sehen und schätzen lernen: Wann hatten wir das letzte Mal Zeit, uns Dingen zu widmen, die wir immer verschoben haben? Endlich eine neue Sprache lernen; endlich mal das Buch zu Ende lesen, das seit Dezember auf dem Nachttisch liegt; endlich für den Marathon trainieren, den man immer schon laufen wollte. Es heißt: Geduld haben und aktiv bleiben.

Ich habe mich jetzt für einen Online-Workshop zum Thema "Stoiker und Gelassenheit" angemeldet. Außerdem finde ich endlich die Zeit, mich meinem Blog und dem Schreiben zu widmen. Und wer weiß, vielleicht öffnen sich damit ja ganz neue Perspektiven?

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
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