Die Zeitzeugen (v.l.) Christian Wolff (Ex-Student), zwei Patientinnen, Moderatorin Susanne Utsch, Klinikchef Helmut Kretz, Buchautor Pross und die Medizinhistorikerin Rotzoll. Foto: Rothe
Von Klaus Welzel
Heidelberg. Was war das Sozialistische Patientenkollektiv - und woran zerbrach es? Über diese Fragen diskutierten am Freitagabend ehemalige Patienten, Psychiater, Pfleger und der Mediziner Christian Pross, der im Rahmen dieses Kolloquiums sein spektakuläres Buch über das Innenleben der Einrichtung vorstellte: "Wir wollten ins Verderben rennen".
Der in puncto Studentenbewegung geschichtsträchtige Hörsaal 13 der Universität war mit gut 300 Besucher übervoll - das SPK (so die Kurzform) zieht eben auch über 45 Jahre nach seiner Auflösung noch. Und das "sehr spannende Heidelberger Thema" (Schirmherr Wolfgang Eckart) polarisiert, wie man im Laufe der zweieinhalbstündigen, äußerst spannenden Veranstaltung merkte.
Christian Pross im RNZ-Interview: Wie er das Sozialistische Patientenkollektiv selbst erlebte
Dabei ging es um viel mehr als nur um Heidelberger Lokalgeschichte. Dass sich das Drama um den hiesigen Psychiater Wolfgang Huber und seine Anhänger in der Neckarstadt abspielte, war eher dem Zufall geschuldet: Huber kam 1964 an die hiesige Psychiatrie, die zu diesem Zeitpunkt von dem liberalen Direktor Walter Ritter von Baeyer geleitet wurde. Landauf, landab gab es als Behandlungsmethoden für psychisch Kranke in erster Linie "Wegsperren und Elektroschocks", wie Maike Rotzoll, Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, berichtete. Die Pfleger seien oftmals Sadisten gewesen, ergänzte Buchautor Pross, der seinen Zivildienst in der Psychiatrie geleistet hatte. Die Kliniken glichen Verwahranstalten.
Von Baeyer und vor allem Huber waren anders. Letzterer nach den Worten des späteren Poliklinik-Chefs Helmut Kretz erst ein sensibler, stiller, fast schüchterner Mensch - und dann, nach seiner "Kündigung" ein Revolutionär, ein Anstifter, ein Agitator. Er führte bereits an der Poliklinik Gesprächstherapien, half Patientinnen und animierte zu Arbeitskreisen auf marxistisch-hegelianischer Basis. Es galt, den Klassenkampf zu gewinnen, sei doch die Gesellschaft krank - nicht die Kranken. Das Klima für Neues war günstig: "Damals waren die Grenzen so fließend. Man hat alles ausprobiert", fasste Pross zusammen.
Interessant am Freitagabend waren die unterschiedlichen Schilderungen über Hubers Persönlichkeit, der als "verschollen" gilt. Einige ehemalige Patienten (auch aus dem Publikum) sahen in ihm den Charismatiker und (narzisstischen) Virtuosen, der nach einem Motorradunfall nicht mehr Klavierspielen konnte. Für andere, wie zum Beispiel Pross, der die erste Zeit am SPK selbst mitbeobachtete, war Huber ein unerträglicher Aufwiegler, der "die Krankheit zur Waffe" machen wollte. Bis zu 500 "Bewaffnete" sollen es gewesen sein. Huber war ihr Chef, Mentor - und teilweise Geliebter.
Der damalige Unirektor Rolf Rendtorff vermittelte nach dem Auslaufen von Hubers Vertrag an der Poliklinik, verfügte die Fortzahlung von dessen Gehalt und stellte Räume in der Rohrbacher Straße zur Verfügung. Das war die Gründung des SPK Ende Februar 1970. Man kann nicht sagen, dass das eineinhalb Jahre "gut" ging. Denn die Menschen fühlten sich nach übereinstimmender Auskunft des Podiums nicht gerade besonders. Zwar erlebte eine Patientin die Zeit im SPK als "Befreiungsschlag" und sie empfand die Freundlichkeit der Mitpatienten als "überwältigend". Aber auf der anderen Seite konnten viele dem theoretischen Überbau kaum folgen - ein Suizid wurde geradezu herzlos ignoriert.
Es kam im Laufe der Monate zu Gewalt, die aber nicht immer dem SPK zugeordnet werden konnte. Konventionelle Ärzte wurden verprügelt. Ein Brandanschlag auf das Finanzamt, ein Anschlag auf Bundespräsident Heinemann, Schüsse auf einen Polizisten in Wiesenbach, dem Wohnort von SPK-Chef Huber. Und schließlich gingen vier SPKler nach der Zwangsauflösung im Juli 1971 (und den Verhaftungen führender Mitglieder) direkt in den Untergrund, weitere sechs bis sieben mit Jahren Verspätung. Dennoch sei das SPK "keine Kaderschmiede der RAF" gewesen - so Christian Pross.
Der Einladende hatte übrigens mit Protesten von SPK-Nachfolgern gerechnet. Aber niemand kam. Und so konnte ein spektakuläres Stück Heidelberger Zeitgeschichte aufgearbeitet werden. Therapiesitzung gelungen.