Nichola Hayton. Foto: Hentschel
Von Micha Hörnle
Es war erst wenige Stunden her, dass Nichola Hayton von der Ermordung der nordenglischen Unterhausabgeordneten und Brexit-Gegnerin Jo Cox erfahren hatte. Und so stand sie am Donnerstagabend noch etwas unter Schock beim Gespräch mit der RNZ. Ja, die Debatte in ihrem Heimatland nehme manchmal hysterische Züge an, aber mit so etwas hätte sie nie gerechnet, sagt die Vorsitzende der Deutsch-Britischen Gesellschaft Heidelberg. Erst auf hartnäckiges Nachfragen rückt sie mit ihrer Position zu der Gretchenfrage der britischen Politik heraus. Denn die Engländer halten sich gern mit ihrer Meinung zurück, "und wir sind zu höflich, andere nach ihrer Meinung zu fragen, das ist für uns viel zu privat". Und so weiß Hayton auch gar nicht so recht, welche Haltung in ihrer Gesellschaft überwiegt. Selbst bei einer großen Diskussion in Heidelberg im April zu diesem Thema - "die bestbesuchte Veranstaltung in zehn Jahren" - tauschten die Besucher eher höflich Argumente aus, anstatt sich die Meinung zu sagen. Dabei hatte sich der Politikprofessor Paul Whiteley gerade ziemlich aus dem Fenster gelehnt: Die Briten würden mehrheitlich doch für den Verbleib in der EU stimmen, weil sie die Stabilität der Ungewissheit vorziehen würden. Natürlich sagte der britische Experte mit keinem Sterbenswörtchen, ob er für oder gegen den Brexit ist.
Da sind die Deutschen in der Deutsch-Britischen Gesellschaft schon anders, sie machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Die Briten sollen bleiben. Erstens ist die EU ein Friedensprojekt und zweitens verlässt man nicht seine Familie - sagt zum Beispiel die zweite Vorsitzende Renate Kinzinger. Und nur weil Hayton andeutet, dass sie mit ihrer Vize nicht übereinstimmt, erahnt man: Hayton ist für den Brexit. Das darf man auch so schreiben, aber nur unter der Bedingung, dass sie es als Privatperson sagt - und die Argumente der Gegenseite gut versteht: "Sagen wir mal so, ich bin zu 70 Prozent vom Brexit überzeugt." Und wieso sagt das jemand, der seit 27 Jahren in Deutschland lebt? "Mein Land hat eher Nachteile. Das fängt bei der Fischerei an, die von der EU kaputtgemacht wurde, und hört beim Europäischen Gerichtshof auf, der die Entscheidungen unserer Gerichte außer Kraft setzt. Das Schlüsselwort ist Souveränität!" Das Schlimmste ist für sie, dass sie nicht wählen darf, weil sie länger als 15 Jahre nicht mehr in Großbritannien wohnt.
Aber würde denn sich ihr Leben nicht ändern, wenn Großbritannien die EU verlässt? "Na, ich werde schon nicht nach Hause geschickt, aber vielleicht wird manches komplizierter. Für mich ist bei dieser Entscheidung die Rückgewinnung unserer Souveränität das Wichtigste, nicht die Auswirkungen auf mein Leben hier", meint die Weststädterin. Abgesehen davon, dass sich nicht allzu viel ändern wird: "Die EU zu verlassen, heißt doch nicht Europa zu verlassen. Wir gehen doch nicht zurück ins dunkle Zeitalter." Außerdem würde der Rest Europas Mittel und Wege finden, die Briten in Würde ziehen zu lassen.
Das ist wohl das wirklich Britische: ein Schuss Gelassenheit und eine fast rührende Anhänglichkeit an Vorstellungen von nationaler Souveränität, die vielen Deutschen eher fremd, wenn nicht gar suspekt sind. Als Kulturwissenschaftlerin ist die Beschäftigung mit ihrem Heimatland Alltag und Beruf zugleich, aber bei aller Reflexion ist für sie auch nach fast drei Jahrzehnten Jahren in Deutschland klar: "Ich bin und bleibe Britin."
Das kann dann schon zu vertrackten Situationen führen: Ende der 80er Jahre sollte sie als junge Unimitarbeiterin in Bayern ihre Treue zur Verfassung des Freistaates bekunden. Sie lehnte ab: "Meine Loyalität gilt allein der Majestät der Königin." Und wie wurde der Gordische Knoten zerschlagen? "Wir einigten uns darauf, dass der Text vorgelesen wird und ich nicht widerspreche." Very British, indeed!