Von Sebastian Riemer
Heidelberg. Das Grundgesetz schützt Eigentum - und verpflichtet Eigentümer zugleich auf das Gemeinwohl. Wie wirkt sich diese Sozialpflichtigkeit aus Artikel 14 auf die Debatte um bezahlbaren Wohnraum aus? Darüber diskutierte die RNZ mit dem Heidelberger Verfassungsrechtler und ehemaligen Bundesverfassungsrichter Prof. Paul Kirchhof und dem Leiter des Heidelberger Mietervereins, Christoph Nestor.
Herr Prof. Kirchhof, in Artikel 14, Absatz 2, des Grundgesetzes heißt es: "Eigentum verpflichtet". Was bedeutet das?
Kirchhof: Eigentum ist die ökonomische Grundlage für die individuelle Freiheit jedes einzelnen Bürgers. Wer ein eigenes Auto, eine eigene Wohnung, ein eigenes Sparbuch hat, gewinnt Freiheit. Doch Eigentum betrifft auch andere. Dann kommt Absatz 2 ins Spiel.
… der den Schutzbereich des Eigentums wieder einschränkt.
Kirchhof: Das Grundgesetz sagt, dass Eigentum zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Das wichtigste Beispiel bietet die Steuer: Wer Eigentum erwirbt, muss einen wesentlichen Teil davon über die Einkommensteuer an die Gemeinschaft abgeben.
Was bedeutet das für Besitzer von Grundstücken, Häusern, Wohnungen?
Kirchhof: Bei Grund und Boden gilt die Sozialpflichtigkeit in besonderem Maße. Auf diese Güter ist jeder Mensch angewiesen. Das Recht muss deshalb Rücksicht nehmen auf den Wohnbedarf, die Nachbarn, die Gemeinde, die Ökologie. Diese Bindung hat sich insbesondere im Umweltschutz stark entwickelt. Beim Kapitalmarkt hingegen gibt es einen großen Nachholbedarf für die Sozialpflichtigkeit des dort bewirtschafteten Kapitaleigentums.
Herr Nestor, sehen Sie das genauso?
Christoph Nestor, Organisationsleiter beim Mieterverein Heidelberg. Foto: DornNestor: Ich sehe auch bei Grund und Boden Nachholbedarf. Der Gesetzgeber wird in Artikel 14 explizit aufgefordert, der Eigentumsgarantie zugunsten des Gemeinwohls Schranken zu setzen. Das tut er beim Handel mit Wohnraum nicht ausreichend. Wenn Immobilienunternehmen maximalen Gewinn machen wollen, hat ein Durchschnittsverdiener keine Chance, eine Wohnung zu finden. Hier hat der Gesetzgeber zu viel Angst vor Immobilienlobbyisten - und zu wenig Respekt vor dem Grundgesetz.
Kirchhof: In manchen Fällen hat der Gesetzgeber bereits durch Neuregelungen die Maßstäbe der Verfassung stärker zur Wirkung gebracht. Hat der Eigentümer mit Grundstücken Veräußerungsgewinne erzielt, werden diese nach immer strenger werdenden Maßstäben besteuert. Bei der Grunderwerbssteuer hingegen ist noch viel zu verbessern. Wer ein Grundstück mit einer GmbH ummantelt, kann die Gesellschaftsrechte - und damit das Grundstück - ohne Grundsteuer übertragen.
Herr Nestor, Sie fordern einen Paradigmenwechsel in der Wohnungspolitik. Wie soll der in Heidelberg ablaufen?
Nestor: Der Gemeinderat sollte beschließen, keine Bebauungspläne mehr für Renditeprojekte zu machen, sondern nur noch für gemeinwohlorientierte Bauträger wie Baugruppen, Genossenschaften oder die städtische Wohnungsbaugesellschaft GGH.
Kirchhof: Diesem Vorschlag widerspreche ich. Heidelberg ist eine Stadt der Wohnkultur, die entstanden ist, weil Menschen Häuser bauen, um sie selbst zu nutzen. Wenn jemand eine weitere Wohnung kauft, um seine Altersvorsorge zu sichern, ist das ein Renditeobjekt. Würde dieser private Wohnungsbau entfallen, würden die Mietpreise stark steigen.
Nestor: Mit Renditeobjekt meine ich etwas anderes: In der Bahnstadt sind Fonds zum Zug gekommen, die enorme Renditen realisieren - und zwar mit Mieten, da hat kein Polizist eine Chance, keine Krankenschwester, schon gar nicht, wenn sie mehr als ein Kind kriegen wollen.
Kirchhof: Artikel 14 meint das Verantwortungseigentum, nicht ein Eigentum, das nur der Gewinnmehrung dient. Der Gesetzgeber muss solche Auswüchse eindämmen. Allerdings betont das Grundgesetz bei der Wohnung nicht den Gemeinwohlgedanken, sondern das Individualwohl: Nach Art. 13 ist "die Wohnung unverletzlich". Sie ist der Ort der Individualität, die Stätte des privaten Lebens, der Raum, in dem jeder "in Ruhe gelassen" werden will.
Aber wie lässt sich das anonyme Immobilien-Spekulantentum verhindern?
Kirchhof: Das ist eine Frage insbesondere der kommunalen Planung. Die Gemeinde muss vor der Alternative von anonymer Kapitalgesellschaft oder etwa einer Wohnungsgenossenschaft die richtigen Partner wählen.
Nestor: Und in Mark Twain Village wurde das gemacht. Dort entstehen 70 Prozent bezahlbarer Wohnraum - im Eigentum und zur Miete. Ein hervorragendes Modell, das auch auf anderen Flächen, etwa Patrick Henry Village, umgesetzt werden sollte. Zudem werden dort Wohnprojekte - auch genossenschaftliche - gefördert, die selbst als Eigentümer Wohnraum schaffen.
Kirchhof: In einer Genossenschaft schaffen die Mitglieder Wohnraum in privater Hand. Es sollte das Ziel jeder Wohnungspolitik sein, Wohneigentum für viele zu fördern. Die Wohnung ist eine der privatsensibelsten Eigentumsformen. In Madrid habe ich kürzlich erlebt, dass über 80 Prozent der Wohnungsinhaber Wohneigentümer sind.
Es gibt aber auch andere Wege zum Erfolg. In Wien etwa leben zwei Drittel der Menschen in Wohnungen der öffentlichen Hand - bei bezahlbaren Mieten.
Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof meint: "Würde der private Wohnungsbau entfallen, würden die Mietpreise stark steigen." Foto: Hentschel
Kirchhof: Dieses Modell mag die Höhe der Mieten mäßigen, fördert aber nicht die persönliche Bestimmungsmacht über privates Wohnen. Das Wohnungseigentum in Hand der Kommune ist etwas strukturell anderes als das Eigentum in der Hand des Wohnungsinhabers. Wir sollten die Herrschaft über das sensible Gut Privatwohnung nicht beim Staat ansiedeln, sondern bei den in der Wohnung lebenden Menschen. Das ist zugleich ein Beitrag, um vorhandenes Eigentum zu pflegen. Wer in seiner eigenen Wohnung lebt, der kümmert sich auch mehr um diese Wohnung. Man pflegt seinen eigenen Garten gewissenhafter als den öffentlichen Park. Privateigentum weist Verantwortlichkeit zu.
Nestor: Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass die allermeisten Mieter ebenso pfleglich mit ihrer Mietwohnung umgehen. Nur bei einem Prozent der Mietverhältnisse gibt es richtige Probleme. Auch Mieter empfinden eine starke Verantwortlichkeit für ihre Mietwohnung.
In Berlin gibt es eine Initiative, die große, renditeorientierte Immobilienkonzerne enteignen will. Was halten Sie davon?
Nestor: In Berlin kauften diese Konzerne vor Jahren alte Sozialwohnungsbestände der öffentlichen Hand - und agieren nun eben nicht verantwortlich im Sinne des Artikels 14. Da fliegen altgediente Mieter einfach raus, weil sich die Mieten verdoppeln. Doch es gibt andere Lösungswege als die Enteignung: Der Gesetzgeber muss die Rechtsbestimmungen so setzen, dass man diese Bestände nicht so einseitig ausschlachten darf - etwa über eine besser greifende Mietpreisbremse.
Kirchhof: Artikel 15 des Grundgesetzes bestimmt, dass Grund und Boden in Gemeineigentum überführt werden kann, allerdings gegen Entschädigung. Davon wurde noch nie Gebrauch gemacht. Und das aus gutem Grund. Denn durch die Enteignung entstehen ja nicht mehr Wohnungen. Wenn wir dem Wohnungssuchenden seine räumliche Privatheit sichern wollen, müssen wir die Milliarden, die für die Entschädigung zur Verfügung stehen, zum Bau neuen Wohnraums einsetzen.
Herr Kirchhof, was ist denn Ihr bevorzugter Weg zum Ziel des bezahlbaren Wohneigentums?
Kirchhof: Wir brauchen eine Familienpolitik für Wohnraum. Bei den Familien ist die Wohnungsnot am größten. Wenn wir staatliche Gelder einsetzen, damit junge Familien aus eigenem Recht eine ihnen angemessene Wohnung oder ein Grundstück erwerben können, ist das ein Akt der Wohnungspolitik, aber auch ein Akt der Zukunftspolitik. Wenn wir nicht auf die Kinder setzen, fehlt uns im Generationenvertrag in Zukunft der leistungsfähige Schuldner.
Nestor: Da stimme ich vollumfänglich zu, aber wir brauchen auch Wohnungspolitik für Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund im Namen und Klienten von Sozialeinrichtungen, die leistbare Mietwohnungen brauchen.