Baumpflegeingenieur Jürgen Schmitt bringt an der Gerichtslinde Sensoren an, mit denen die Dicke des Baums und Vertiefungen im Stamm erkannt werden können. Sohn Max assistiert. Foto: Marcus Deschner
Von Marcus Deschner
Schönbrunn. Stärker geschädigt als bislang angenommen ist die Haager Gerichtslinde. Die Straße am ehemaligen Rathaus, neben dem der rund 600 Jahre alte Baum steht, wurde deshalb von der Gemeinde gesperrt und mit einem Bauzaun gesichert. Diplom-Forstingenieur Jürgen Schmitt hat sich an die Untersuchung des Baums gemacht.
"Ich habe vom geplanten Rückschnitt der Linde durch die Zeitung erfahren und daraufhin der Gemeinde meine Dienste angeboten, unentgeltlich", sagt Schmitt bei einem Ortstermin. Denn einen solch alten "Methusalembaum" als Untersuchungsprojekt habe man nicht alle Tage.
In der Zeitung war vorigen Monat aus einer Sitzung des Ausschusses für Bau, Technik und Umwelt berichtet worden. Dabei ging es auch um die Verkehrssicherung an der Gerichtslinde. Damals ging die Gemeinde aber von wesentlich geringeren Schäden an dem Baum aus.
"Ich war schon ein paar Mal da", sagt Schmitt. Zuerst hatte er auf einem Hubsteiger den oberen Teil des Naturdenkmals in Augenschein genommen. Dabei habe sich "ein normaler Alterungsprozess" gezeigt: "Der Baum ist komplett hohl".
Die Straße an der rund 600 Jahre alten Haager Gerichtslinde ist wegen der Einsturzgefahr des Baums derzeit mit einem Bauzaun abgesperrt. Foto: Marcus DeschnerZwei 1983 eingezogene Stahlseilkronensicherungen seien ihm bei der Sichtung aufgefallen: "Das war damals Stand der Technik, heutzutage macht man so etwas aber nicht mehr." Auch auf allerlei Höhlungen in dem alten Baum sei er gestoßen.
Am Stamm breitet sich der Brandkrustenpilz aus und hat sich schon quer durchgefressen. Der Baum wiederum schottet sich durch Einlagerung von Stoffen ab und macht sogenannte "Reparaturanbauten". Der Baum könne mit dem Schlauchpilz lange leben.
Zu Rate gezogen worden sei dann auch Diplom-Biologe Klaus Wurst, der für die Obere Naturschutzbehörde arbeitet. Der Fachmann konnte in dem Baum "glücklicherweise" keine streng geschützten Arten wie Fledermäuse feststellen, was die Rettung ungemein erschwert hätte. Durch den hohlen Stamm entstehe ein "Kamineffekt", den Fledermäuse nicht schätzten, klärt Schmitt auf.
Allerlei anderes Getier zieht der Baum dagegen schon an. Wie beispielsweise ein Marienkäfer, den Sohn Max stolz dem Papa zeigt. Ebenso stieß der Gutachter auf ein verlassenes Eichhörnchennest und etliche Spechtlöcher.
Bei seinem jüngsten Besuch in Haag rückte Jürgen Schmitt mit modernster Technik an. Nägel wurden in den Stamm geschlagen und daran Sensoren angeklemmt und miteinander verbunden. Der Schonhammer, mit dem vorher der Stamm rundherum abgeklopft wurde, zeigte Schmitt an, wo er diese anbringen muss. "Das höre ich mit den Ohren".
Mit den Sensoren kann erkannt werden, wie schnell der Schall durch den Stamm läuft. Genau vermessen werden auch der Stammumfang und die Höhlungen im Innern, "denn die sind nicht immer rund". Die Daten werden kabellos an einen Laptop übertragen und mit einem speziellen Programm ausgewertet.
Der gefährliche Brandkrustenpilz greift am Stammfuß und an den Wurzelanläufen an. Foto: Marcus DeschnerMit dem bildgebenden Verfahren lassen etwa sich eine Windlastanalyse erstellen und das Biegemoment am Stammfuß errechnen. "Wir erkennen dadurch genau, wie viel weggeschnitten werden muss", klärt Schmitt auf.
Man teile "Methusalem-Bäume" in zehn Phasen ein", gibt der Experte Einblick in Baumkunde. Die Haager Linde befinde sich in Phase Sechs. Das bedeutet, dass der Baum "auf dem absteigenden Ast" ist und seinen Zenit schon überschritten hat.
Durch den natürlichen Alterungsprozess versuche der Baum seine Wasserleitungen zu verkürzen. "Das ist eine Überlebensstrategie", sagt Baumexperte Schmitt.
Den oberen Baumteil will der Fachmann mit einem Kran herausnehmen und neben dem Stamm ablegen, damit hier beheimatete Tiere weiterhin darin leben können. Weitere Äste will er durch Gurtband und Hohltau sichern. Ziel sei es, den Baum so lange wie möglich zu erhalten.
Als "durchaus realistisch" bezeichnet der Baumpflegeingenieur aufgrund seiner Untersuchungen ein Alter des Baums von 600 Jahren. "Tausend Jahre ist er aber noch nicht alt", ist Schmitt überzeugt.
Gleichwohl dürfte es sich bei der Haager Gerichtslinde um den ältesten Baum im Kleinen Odenwald handeln. Wie Schmitt von alteingesessenen Haagern erfahren hat, soll es in Unterhaag einst eine weitere Gerichtslinde gegeben haben. Dieser ebenfalls sehr alte Baum sei allerdings bei Straßenbauarbeiten in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts an den Wurzeln derart beschädigt worden, dass er eines Tages umstürzte und dann beseitigt wurde – das soll der noch stehenden Linde erspart bleiben.