Von Jutta Biener-Drews
Eberbach. Als andere Jungs in seinem Alter noch von einer Zukunft als Feuerwehrmann, Astronaut oder Rapper träumten und wahrscheinlich keinen Schimmer hatten, was das ist, ein Stadtarchivar, wollte er das schon werden: ein Stadtarchivar. Mit 31 Jahren ist er am Ziel seiner Wünsche: Dr. Marius Golgath ist seit 1. Oktober neuer Leiter des Eberbacher Stadt- und Verbundarchivs. Wie sich das anfühlt? Der Historiker erklärt dies und anderes mehr im Gespräch: Welche Aufgaben er hat als Chef des Hauses in Pleutersbach, was ihm an seiner Arbeit besonderen Spaß macht – und wie schon sehr früh klar war, dass Beruf und Berufung bei ihm ein und dasselbe sein würden.
Zuhause in Eschelbronn war Golgath schon als Kind fasziniert von dem, was ihm die Oma über seine Vorfahren in Daisbach erzählte. Als Jugendlicher erforscht er seinen Stammbaum und macht das offenbar so gut, dass Pfarramt und Rathaus seiner Gemeinde anfangen, ihn in diesen Fragen zurate zu ziehen. Mit 14 beantwortet er die erste genealogische Anfrage einer Familie aus Wisconsin/ USA, seine Recherchen fördern "ein regelrechtes Auswanderernetzwerk zwischen Daisbach und Wisconsin im 19. Jahrhundert" zutage. Und Golgath findet heraus, dass sich die Wurzeln dieser mit denen seiner eigenen Familie berühren. Vermutlich auch, dass er jetzt ganz in seinem Element ist. Die persönlichen Kontakte, die er bei seinen Nachforschungen knüpft, halten bis heute.
Mit 16 erscheint sein erster regionalgeschichtlicher Artikel im Eschelbronner Heimatblatt "Howwl" (Hobel), für den Heimatkalender "Unser Land" schreibt er dauerhaft ab 19. Sein Geschichtsstudium an der Universität Mannheim schließt er mit einer Doktorarbeit ab ("Die Familie Kolb in Lille: Eine deutsch-französische Geschichte zwischen Emigration und Integration (1789-1914"), die seine Uni mit einem Förderpreis bedenkt. Am Staatsarchiv in Sigmaringen tritt er seine erste Stelle an. Jetzt ist Marius Golgath zurück in der Kurpfalz.
Richtig neu war das, was er am ersten offiziellen Arbeitstag im Stadtarchiv antraf natürlich nicht für Golgath. Er kam ja direkt aus dem Staatsarchiv, und vor Ort hatte ihn sein Vorgänger Dr. Rüdiger Lenz seit Sommer bereits gründlich eingearbeitet. Trotzdem: "Es war ein freudiger Tag für mich", sagt der junge Historiker und strahlt übers ganze Gesicht. "Es ist schon was anderes, wenn man schwarz auf weiß liest, dass man jetzt Leiter des Stadtarchivs ist". Und dass er sich schon sehr gut eingelebt habe, dafür lobt er das gute Verhältnis zum Rathaus und seine erfahrenen Archiv-Mitarbeiterinnen Marina Friehs und Petra Kuhnt.
Über das Klischee vom Archivar als eines einsam über alten Akten brütenden Griesgrams kann Marius Golgath nur höflich lächeln. Er selbst ist mit seinen 32 Jahren ja auch das genaue Gegenteil davon. Er ist nicht nur ein erklärtermaßen leidenschaftlicher Forscher und Sammler, er kommt auch so rüber. Und er tut alles, um seine Arbeit und das, was sie den Menschen zu bieten hat, auch an die Öffentlichkeit zu bringen. "Das macht mir Spaß!"
Immerhin zwei der drei Säulen, auf denen Archivarbeit ruht, sind publikumszentriert, erklärt Golgath. Sein Job ist es, Benutzer zu betreuen, Anfragen zu beantworten, die ihn von Privatleuten, aus den Verbundgemeinden oder von Medien erreichen. Er hilft bei Recherchen aller Art, "wenn Schüler oder Studenten was für ihre Arbeiten brauchen" oder jemand Ahnenforschung betreibt. Golgath ist Tippgeber, Ratgeber, Auskunftgeber und erfreut, dass "der Publikumsverkehr hier rege ist". Themen, die ihm schon untergekommen sind: "Mühlen im Odenwald" zum Beispiel, oder der Bauhausschüler Heiner Knaub, über den in Heidelberg gerade eine Ausstellung läuft. Hinzu kommt Öffentlichkeitsarbeit in Form von Führungen und Vorträgen, ab 2021 wird er die Schriftleitung des "Eberbacher Geschichtsblatts", die er sich 2020 noch mit Rüdiger Lenz teilt, komplett übernehmen.
Wenn der OWK Neckarbischofsheim nach einer Wanderung in Pleutersbach noch bei Golgath klingelt und sich durchs Archiv führen lässt, ist das natürlich kein Zufall. Golgath wandert in seiner Freizeit nämlich selber gern durch die Gegend, wie er sagt. Wandern gleich Exkursionen machen. Denn all die Orte, denen er in den historischen Akten seines Verbundgebiets begegnet – dieses Verbunds aus zehn Kommunen in drei Landkreisen und zwei Bundesländern, dieser Region mit ihren rund 40.000 Einwohnern – er möchte sie alle auch aus eigener Anschauung kennenlernen bzw. seine Kenntnisse darüber vertiefen. Neckartal, Burg Eberbach, Wolfsschlucht, Stolzenburg. Ein Nutzer interessiert sich für Straßennamen? Marius Golgath geht dem garantiert auch buchstäblich nach.
In Lindach hat der Archivar Filme aus den 1970er-Jahren zugänglich gemacht und öffentlich vorgeführt: "Wir haben da noch einen alten Projektor...". Der Film habe bemerkenswerte Szenen und Ansichten der Region vor 40 Jahren gezeigt, sagt Golgath. Aber er hatte noch einen erwünschten Nebeneffekt: "So erreicht man auch Leute, die keine Ahnung haben von Archivarbeit!" Und man sorgt dafür, dass der Nachwelt solches Material erhalten bleibt.
Von wegen verstaubte Akten: Als Kostprobe dafür, dass das Stadtarchiv eine Fundgrube für spannende Themen und Geschichten ist, schlägt Golgath das Bürger- und Ratsbuch von 1551 auf, das Eintragungen aus der Zeit bis 1884 enthält. Ein ehrfurchtgebietend-monumentaler Wälzer in Schweinsleder, dessen fleckige Seiten im Innern mit einem geheimnisvollen Loch durchbohrt sind. Der Historiker klärt auf: "Da hat im Dreißigjährigen Krieg ein kaiserlicher Soldat mit einem Fausthammer auf den Ratsschreiber eingeschlagen". Hätte der zu seiner Rettung nicht geistesgegenwärtig den Papierpacken vor das langstielige Trum gehalten – das Loch lässt keinen Zweifel am blutigen Ausgang dieser hochdramatischen Szene. Zu sehen ist das auch als Sgraffito auf der Fassade des Hotels "Karpfen", zeigt Golgath auf einer Abbildung.
Fehlt noch die dritte Säule der Archivarbeit: das Verwahrtechnische. Hier erwartet den jungen Stadtarchivar mit der Digitalisierung der Bestände eine Großaufgabe. "Es ist technisch möglich, das gleichzeitig für Eberbach und die Verbundgemeinden zu machen", sieht Golgath darin aber auch eine Möglichkeit zur Stärkung des Mittelzentrums. Außerdem soll es ab 1. Januar Langzeitspeicherung geben im Pleutersbacher Schulweg.
In großem Stil beschäftigen wird den Historiker auch die 800-Jahr-Feier der Stadt Eberbach in 2027. Die Vorbereitungen sind angelaufen. Und ja, natürlich hat Marius Golgath im Stadtarchiv auch schon was entdeckt, das seinen persönlichen Forscherdrang anregt. Es ist eine Familiengeschichte, die des Johann Peter Balde, von 1832 bis 1839 Bürgermeister von Eberbach.
Marius Golgath mit dem Ratsbuch von 1551. Das Loch in den Seiten stammt vom Wurfhammer eines Soldaten, der auf den Ratsschreiber losging.