Als die Synagoge in Flammen stand
Drei Zeitzeugen berichten, was sie vor 80 Jahren erlebt haben

Am 10. November vor 80 Jahren wurde die 1913 eröffnete Synagoge in der Brückenstraße niedergebrannt. Repro/Foto: Rainer Hofmeyer
Von Rainer Hofmeyer
Eberbach. Achtzig Jahre ist sie jetzt her, die sogenannte Reichspogromnacht. Reichsweit, aber auch im kleinen Eberbach mobilisierten sich die Nationalsozialisten gegen die Juden. Die SS-Leute der Ortsgruppe 12/33 tobten sich vom Abend des 9. auf den Morgen des 10. November 1938 in der Stadt aus. Statt in ihren schwarzen Uniformen waren sie dabei in Zivil: Die "Judenaktionen" sollten aussehen wie Wut der Bevölkerung.
Auf Kommando aus Heidelberg nahmen sich die Eberbacher Nazis am Abend erst einmal die jüdischen Läden vor. Vier jüdische Einzelhandelsgeschäfte gab es 1938 noch in der Altstadt. Es wird von drei zerstörten Kaufläden berichtet: Bei Händler Levy & Wolf in der Oberen Badstraße 14, beim Eisenwarengeschäft Alfred Freudenberger in der Hauptstraße 15 und beim Gemischtwarenhandel Adolf David in der Kellereistraße 9.
Die straff organisierten Trupps rissen Rollläden ein, Fenster und Auslagen wurden zertrümmert. Allein bei Levy & Wolf verursachten die Schläger einen Schaden in Höhe von 2000 Reichsmark. Eine Beobachterin von damals, die nicht genannt werden will, berichtete, wie auch an der Ecke der Hauptstraße zur Oberen Badstraße Inventar aus dem Haus Aron David auf die Straße geworfen wurden - unter dem "Gejohle" von dabeistehenden Eberbachern.
Dann zogen die Horden hinaus in die Brückenstraße. Sie drangen dort in die kleine Synagoge, seit 1913 der Stolz der Eberbacher Juden, demolierten die Einrichtung, raubten die Gottesdienstgegenstände. Um halb sieben brannte das Gebäude. Noch heute gibt es unmittelbare Erinnerungen an die Reichspogromnacht.
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Ilse Ketterer sah vom Dachfenster aus die nahe Synagoge brennen. Foto: Rainer Hofmeyer
Alte Eberbacher sind es, die das Ende der Synagoge miterlebt haben und auch 80 Jahre danach noch davon berichten können. Die inzwischen 93 Jahre alte Ilse Ketterer, geb. Hilbert, kann sich klar an den Brand des Gotteshauses erinnern. Die Familie Hilbert wohnte in unmittelbarer Nähe beim Rosenturm in einem alten Fachwerkhaus, in Blickrichtung zur Synagoge. Zusammen mit ihrer älteren Schwester Liselotte sah die 13-jährige Ilse das lodernde Feuer von der Dachgaube der elterlichen Wohnung aus. Sie seien von der Feuersirene aufgeschreckt worden, sagt Ilse Ketterer heute. Als die beiden Kinder kurz vor acht Uhr in die nahe gelegene Dr.-Weiss-Schule gingen, brannte es immer noch. Auch vom Unterricht aus haben die beiden Schwestern das Geschehen an der Synagoge beobachten können.

Fred Henk sah als 12-jähriger Gymnasiast einen SS-Mann über die Kirchentreppe ins Büro eilen. Foto: Rainer Hofmeyer
An den an der Brandstiftung beim jüdischen Gotteshaus beteiligten SS-Mann Anton K. kann sich Altstadtrat Fred Henk (92) auch nach 80 Jahren erinnern. Der 12-jährige Fred stand am Morgen des 10. November 1938 kurz vor acht mit seinen Mitschülern an der alten Turnhalle bei der katholischen Kirche, um auf den Sportlehrer zu warten, einen ostpreußischen Adligen.
Der Rauch der brennenden Synagoge war von Weitem zu sehen. Da eilte der in der Stadt bekannte SS-Mann in Zivil vom Tatort her über die Kirchenstaffel "im Stechschritt" heran Richtung Friedrichstraße, um pünktlich seine Arbeit bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse in der nahen Bussemerstraße aufzunehmen. Anderthalb Stunden vorher war er bei der Brandstiftung beteiligt.
Der Lehrer, auf den die Schüler gewartet hatten, wurde nie mehr gesehen. Womöglich war er an der Zerstörung der Synagoge beteiligt und die Leitung des Gymnasiums hat ihn "aus der Schusslinie genommen", interpretiert heute Fred Henk die möglichen Hintergründe des Verschwindens.

Helmut Joho stand vor 80 Jahren als Kindergartenbub morgens vor der abgebrannten Synagoge. Foto: Rainer Hofmeyer
Gymnasialprofessor Helmut Joho (85) wohnte als Kind in der Neckarhälde. Er war am Morgen auf dem Weg in den Kindergarten an der Synagogen-Ruine vorbeigegangen, als das Feuer schon weit heruntergebrannt war. Joho war fünf Jahre alt, kann sich aber noch die Szene ins Gedächtnis rufen. Viele Menschen betrachteten damals das Geschehen von der Leopold-Plaichinger-Straße aus, benannt nach dem Ortsgruppenführer der SA - heute Adolf-Knecht-Straße. "Keiner der Anwesenden rief ‚Sieg Heil!‘", betont Joho, "alle hatten ernste Gesichter".
Der kleine Helmut sah, wie die Feuerwehr mit Äxten die Dachbalken des ausgekohlten Gotteshauses herunterschlug. "Ich hatte vorher noch nie ein abgebranntes Haus gesehen." Als die Synagoge gänzlich in Flammen gestanden hatte, war die "Feuerschutzpolizei" untätig geblieben - sie achtete nur darauf, dass kein Gebäude der Nachbarschaft gefährdet wurde. Zuhause angekommen, kommentierte Johos Mutter: "Da haben wir Deutschen große Schuld auf uns geladen. Wenn wir das nicht mal büßen müssen."
Der vom Verleger Wilhelm Krauth herausgegebene "Stadt- und Landbote", dem im Mai 1935 zwangsweise Joseph Wieprechts "Eberbacher Zeitung" eingegliedert worden war, lag auf der Linie der Propaganda und berichtete über die Zerstörungen in Eberbach als einer "Demonstration gegen die Juden" und einer starken "Empörung über die Mordtat des Juden Grünspan am deutschen Gesandtschaftsrat von Rath in Paris", die die "antijüdischen Akte" ausgelöst habe.

Die lapidare Notiz aus dem Eberbacher Geschichtsblatt. Repro: Rainer Hofmeyer
Bürgermeister Hermann Schmeißer (1935 bis 1940), Mitglied der SA und immer in Uniform, ließ unter dem Zeitgeschehen für 1938 im Geschichtsblatt lapidar notieren: "Die Erbitterung der Bevölkerung … machte sich in der Demolierung der jüdischen Geschäftsschaufenster Luft … Außerdem ging die Synagoge in Flammen auf".
Die Eberbacher haben Hermann Schmeißer seine Rolle im Dritten Reich eigentlich nie verübelt. Von 1954 bis 1972 wurde er demokratisch zum Bürgermeister gewählt. Und zum Abschied aus dem Amt erhielt Schmeißer sogar die Ehrenbürgerschaft der Stadt. Nur fünf an den Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 beteiligten Eberbacher SS-Leuten wurde 1948 beim Landgericht Mosbach der Prozess gemacht. Sie hatten alle nach dem Krieg wieder eine bürgerliche Existenz in der Stadt eingenommen. Kaufmann Anton K., Kaufmann Georg S., Vertreter Joseph H., Werkmeister Jakob Philipp Wilhelm H. und Zementeur Josef Sch. mussten sich verantworten.
Vier Angeklagte bekannten sich zu ihren Taten, beriefen sich aber gleichzeitig auf übergeordnete Befehle. Anton K. konnte auf Befragen des Gerichtes noch nicht einmal erläutern, was er denn damals überhaupt angezündet hatte. Er dachte, eine Synagoge sei ein einfacher Versammlungsraum für Juden und kein Gotteshaus. Das Gericht verhängte Haftstrafen von einmal zwei Jahren und drei Mal anderthalb Jahren. Man rechnete den Angeklagten ihren "guten Leumund" zugute - sie waren nicht vorbestraft. Weitere Eberbacher wurden nicht zur Rechenschaft gezogen. Anderen Verdächtigen konnte die Beteiligung an der Pogromnacht von 1938 nicht nachgewiesen werden - oder sie waren im Zweiten Weltkrieg gefallen. Der Gedenkstein für die Synagoge wurde am 9. November 1979 von Bürgermeister Schmeißers Nachfolger Horst Schlesinger enthüllt.