Von Walter Gramlich
Walldürn. Der Beginn der reformatorischen Bewegung ist eng mit der Person Albrechts von Brandenburg verbunden. Nach seiner Wahl zum Erzbischof von Mainz will er auch die Leitung von Magdeburg und Halberstadt übernehmen. Dafür benötigt er aber die Zustimmung des Papstes. Um die für die Genehmigung erforderliche Summe aufbringen zu können, bietet ihm die Kurie einen Ablass an, dessen Ertrag zur Hälfte ihm zufallen solle. Mit der Kontrolle des Ablasses werden zahlreiche Kleriker beschäftigt – unter ihnen als Bekanntester der Dominikaner Johann Tetzel, dessen Auftreten Luther auf den Plan ruft.
Seine Thesen verbreiten sich in Windeseile über alle deutschen Lande und dringen so in das Erzstift Mainz ein, ohne jedoch zunächst breiten Widerhall zu finden. Erst 1523 leitet Erzbischof Albrecht ernsthafte Maßnahmen ein. Im Gegensatz zu Miltenberg und Tauberbischofsheim scheinen in Walldürn jedoch nie ernsthafte Versuche unternommen worden zu sein. Die Wirren des Bauernkriegs und das nachfolgende strenge landesherrliche Regiment dürfen als Gründe gelten. Trotzdem wird von einigen Lutheranern berichtet, die "nach Höpfingen zum Gottesdienst auslaufen".
"Von 700 können noch keine sieben die Seligkeit erhalten."
Die Walldürner Pfarrei haben seit dem 15. Jahrhundert verschiedene Kanoniker inne. Obwohl der Ort territorial zu Mainz gehört, unterstehen die Pfarrer der Jurisdiktion Würzburgs. Als sich aber im Laufe des 16. Jahrhunderts die Konfession immer stärker an die landesherrliche Gewalt bindet, trüben sich in Walldürn die kirchenrechtlichen Zugehörigkeitsverhältnisse. So untersagt etwa der Stadtrat in den 70er Jahren dem Bischof von Würzburg, ein Kreuz auf Walldürner Gemarkung zu errichten.
Wie sehr Zucht und Ordnung zu dieser Zeit im geistlichen Stand nachgelassen haben, belegen Aufzeichnungen in der Pfarrerliste des Severus (Johannes Sebastianus Severus: 1766 bis 1779 Pfarrer in Walldürn): 1560 bis 1573 amtiert als Pfarrverweser in Walldürn der übel beleumundete Leonhard Krafft. Geschäftstüchtig vermietet er das Pfarrhaus zum Weinzapfen gegen ein Fastnachtshuhn. Einem Bauern schneidet er eine Scharte in den Hut und lässt ihn ins Gefängnis werfen, weil er mit seinen Ochsen in den Pfarrgarten gefahren sei.
1560 prozessiert er laut Beschwerdebrief an den Kurfürsten mit dem Bürger Hans Kune, dessen Tochter er entführt und zu sich genommen habe. Da sie ein Kind von ihm bekommen habe, bestehe er darauf, sie zu behalten. Kune habe den Pfarrer verprügeln wollen, doch der sei ihm entwischt. Deshalb habe er ihm die Fenster eingeschlagen und sei folglich vor den Richter gekommen. Trotz Zank und Konkubinat kann sich Krafft aber auf der Pfarrei halten und sucht sein Einkommen, auf das er sehr bedacht ist, durch eine Sicherung des Ablasskonkurses auf Oktav von Fronleichnam zu verbessern. So steht er hinter der Abschrift der Ablassbulle Papst Eugens IV., die er 1571 vor dem Notar in Amorbach veranlasst.
Nach Kraffts Tod 1573 schickt Mainz den aus Sittard in den Niederlanden stammenden Magister Johannes Lupsius. Er ist der erste ordentliche Pfarrer, der nach den neuen Vorschriften des Konzils von Trient (1545 bis 1564) investiert wird und selbst am Ort residiert. Obwohl Würzburg ihn nur de facto anerkennt, bescheinigt es ihm eine vorbildliche Amtsführung. Das sei im Vergleich zu anderen Pfarreien eine hervorstechende Ausnahme. Lupsius stirbt am 10. Mai 1586.
Als Jost Hoffmann in Aschaffenburg geboren, hat Magister Jodocus Hoffius – wahrscheinlich in Mainz – seine akademische Ausbildung erfahren. Darauf deuten sowohl Titel als auch Latinisierung seines Namens hin. Am 10. Mai 1586 präsentiert der Dekan von Amorbach ihn feierlich dem Walldürner Volk.
Würzburg erkennt dies wiederum zähneknirschend an, weil Hoffius’ seelsorgliche Tätigkeit weit über dem Durchschnitt des damaligen Klerus liegt. Man versäumt es jedoch nicht, ihn regelmäßig zu visitieren. Denn Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn (1573 bis 1617) gibt diesmal nicht so ohne weiteres klein bei, sondern sucht seine Rechte gegen Mainz zu sichern.
Die zu Walldürn gehörige "filial Ripperg", so schreibt Hoffius, sei zusammen mit Hornbach "zur neuen Pfarr uffgericht" worden und man habe "von meiner Pfar auch gewölt ein Dorff Gerolshan dahin zihen" und man wolle sogar das Barbara-Benefizium der "neuen Rippergkirchen incorporirn". Obwohl die kirchenrechtliche Kompetenz bei Würzburg liegt, anerkennt Hoffius nur den Erzbischof von Mainz und dessen Kirchenkommissariat in Aschaffenburg. Dorthin wird er bei Beschwerden zitiert und dort verteidigt er seine Arbeit.
Dass Beschwerden gegen Hoffius vorgebracht werden und welche Argumente sie enthalten, zeigt die andere große Misslichkeit, welche die Arbeit des Pfarrers behindert und ihm seine 42-jährige Tätigkeit in Walldürn oft sauer macht. Der Verworrenheit der kirchlichen Verhältnisse entsprechen die sittlichen Zustände, die im hinteren Odenwald durch soziale Not noch zusätzlich verschärft werden. Gotteslästerung, Kirchendiebstahl, Mord, Schlägereien oder Ehebruch sind an der Tagesordnung, wie Gerichtsakten belegen.
In dieser von sozialer, sittlicher und religiöser Not geplagten Zeit beginnt Jodocus Hoffius, die Wallfahrt mit allen Mitteln zu fördern. Er will damit ein Zweifaches erreichen: der armen Stadt in der wirtschaftlich wie geografisch so ungünstigen Situation eine ökonomische Grundlage schaffen, um nach deren Erreichen gleichzeitig die Pfarrgemeinde geistlich reformieren zu können. Doch seine wortgewaltigen Predigten missfallen den Walldürnern – zumal er alle ihre Schandtaten laut von der Kanzel ruft. Vor allem die Wirte sind ihm gram, weil er Tanz und Würfelspiel verdammt und sich für die Einhaltung der sehr frühen Polizeistunden – sieben, acht beziehungsweise neun Uhr auch an Festtagen – einsetzt.
Im Grobianismus seiner Epoche vergleicht er seine Pfarrkinder mit den Juden zu des Mose Zeiten, die um das Goldene Kalb tanzten. Wie dort nur wenige das Heilige Land erreicht hätten, so könnten hier von seinen 700 Seelen noch keine sieben die Seligkeit erlangen. "Es kommen nur wenige Jungfrauen vom Tanze heim", und wegen der vielen Streitereien, Tätlichkeiten und Auseinandersetzungen zeugten die Walldürner nur "krumme und schlechte Kinder". Wenn er die Stadt anzünde, habe er weniger gesündigt, als wenn er nur einen Tanz erlaube. Der Stadtrat sei wie Samsons Füchse an den Schwänzen zusammengebunden, und jeder wolle in eine andere Richtung ziehen. Gott müsse ein Narr sein, wenn er diesen Undankbaren helfen wolle.
Die Gegenseite fährt aber mit nicht minderstarkem Geschütz auf. Diesem "Sakramentspfaff" wolle man "aufs Maul scheißen" und man wünscht, der Teufel solle ihm "in sein Arsch schlagen". Seine Predigten seien bis zu zwei und zweieinhalb Stunden lang. Dabei scheue er sich nicht, "einen Standt nach dem anderen, nemblich und erstlich die Obrigkeit, den Raths Personen, item alle Gottes Gnadt und Barmherzigkeit abzuerkennen".
Schließlich verwende er Opfergeld zu persönlichen Zwecken. Doch die rege Bautätigkeit der Pfarrers – der Umbau von Turm und Kirche sowie der prächtige Blutaltar von Zacharias Juncker – widerlegen gerade diese Anschuldigung,
"Der Teufel soll dem Sakramentspfaff aufs Maul scheißen."
und die Visitationsprotokolle heben den großen Einsatz von Hoffius heraus. Mit einer Beschwerde hat die Gemeinde jedoch Erfolg: Eine Regelung von 1615 besagt nämlich, der Sonntagsgottesdienst solle unter Strafe nicht länger dauern als zweieinviertel bis zweieinhalb Stunden – "besonders auf dem Lande zur Winterszeit, da das Volk oft übel gekleidet ist".
Bewunderung erfährt Hoffius jedoch für seine Aktivität und Willenskraft, die er trotz häufiger und zum Teil schwerer Krankheit an den Tag legt. Am deutlichsten zeigt sich das an seiner Förderung der Wallfahrt. "Ich habe", so schreibt er selbst, "die vor vielen Jahren verfallene gottselige Wallfahrth zum Heylig Bluth durch meinen Vleiß, Predigten undDruck zue Latein und Teutsch wiederumb erhoben, weit und breit der Welt bekannt gemacht" und für die Kirche reichliche Spenden an Geld, Kleinodien und Zierrat eingebracht. Bis zu 30.000 Pilger seien während der wenigen Wallfahrtstage erschienen. Mit dem Ausbau der Wallfahrtszeit auf vier Tage hinterlässt Magister Jodocus Hoffius seinen Nachfolgern eine Wallfahrt, die selbst alle Stürme des 30-jährigen Kriegs überdauert.
In der Bevölkerung wird die neue Entwicklung spürbar. Um 1600 verlegen Walldürner Bauern ihre Höfe aus der engen Altstadt vor die Tore in die Wiesen- und Ackerflur, die wesentlich bessere Entwicklungsmöglichkeiten bietet. So entstehen die Obere und die Untere Vorstadt. Dorthin folgen bald jene Handwerker, die vorwiegend für bäuerliche Bedürfnisse arbeiten: Schmiede, Wagner, Sattler und Küfer.
Hier tun sich jene großen, für Walldürn typischen Gasthöfe mit eigener Landwirtschaft auf wie der "Ritter" oder der "Römische König". Sie profitieren von beiden Erwerbsquellen jener Zeit: von der Landwirtschaft und vom einsetzenden Zustrom der Wallfahrer. Dies kommt – zwar langsam, aber stetig – dem Bürgertum, das in der Altstadt in den oft engen und ärmlichen Verhältnissen zurückgeblieben ist, zugute. Die von Jodocus Hoffius wesentlich geprägte Entwicklung von Stadt und Wallfahrt erweist sich so als dauerhaftes Erbe, das die Zukunft mitgestaltet.