Die Schulsozialarbeiter Matthias Steinbach, Anne Geyer und Marcel Mader machen in ihrem Berufsalltag die Erfahrung, dass die Zahl der Schüler, die gestresst sind oder psychische Probleme haben, im Corona-Jahr gestiegen ist. Foto: Tanja Radan
Neckar-Odenwald-Kreis. (tra) Seit Wochen wird in der Politik darüber gestritten, wann die Schulen wieder öffnen sollen, und auch das Homeschooling stand dabei immer wieder im Fokus des öffentlichen Interesses. Die Frage, wie es den Kindern und Jugendlichen eigentlich geht, die nun Tag für Tag vor dem Bildschirm sitzend lernen und ihre Freunde und Klassenkameraden seit vielen Wochen nicht mehr gesehen haben, wurde bisher jedoch eher seltener gestellt. Wie sich die Schüler fühlen, wissen vor allem auch die Schulsozialarbeiter, die für die Kinder und Jugendlichen nach wie vor über Telefon und das Internet erreichbar sind.
Wir haben uns mit drei Schulsozialarbeitern der Caritas im Neckar-Odenwald-Kreis unterhalten: Anne Geyer ist für die Schüler des Osterburkener Ganztagsgymnasium sowie für die Schüler der Seckachtalschule in Seckach da, Matthias Steinbach für die Schüler, die die Schule am Limes in Osterburken und die Astrid-Lindgren-Schule in Bofsheim besuchen, und Marcel Mader kümmert sich um die Kinder und Jugendlichen, die in Obrigheim in die Realschule und in die Gemeinschaftsschule gehen.
Im Gespräch mit den drei Schulsozialarbeitern wird klar, dass Lockdown und Fernunterricht vielen Schülern nicht guttun. "Im Vergleich zum Vorjahr gibt es momentan mehr Schüler, die unter Ängsten leiden und zu Hause Stress haben, weil die Eltern sich Sorgen um ihren Beruf machen oder ihn sogar verloren haben. Das trägt dazu bei, dass das Streitpotenzial in vielen Familien aktuell höher als sonst ist", berichtet Marcel Mader. Auf zu großen Lockdown-Stress reagierten manche älteren Schüler mit Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder hätten sogar Suizidgedanken.
Jüngere Kinder machen sich ebenso viele Sorgen, nur auf eine andere Art und Weise: "Grundschüler haben Angst, dass sich Oma und Opa bei ihnen mit dem Coronavirus anstecken könnten, oder sie befürchten, dass sie ihre Freunde verlieren werden, wenn sie sie so lange nicht treffen können", erzählt Anne Geyer. "Die Grundschüler bekommen zudem natürlich mit, wenn die Eltern gestresst sind, und haben dann Angst, dass die Eltern sich trennen könnten."
Grundschüler seien in Zeiten der Kontaktbeschränkungen und des Lockdowns besonders isoliert, da sie noch nicht in sozialen Medien aktiv seien. "Ältere Schüler halten über das Internet den Kontakt zu ihren Freunden, kleinere Kinder haben diese Kompensationsmöglichkeit nicht", sagt Geyer. Die Schulsozialarbeiterin hat die Erfahrung gemacht, dass bei Grundschülern das Aggressionspotenzial gestiegen sei. "Das liegt auch daran, dass ihnen der Sport fehlt. Die Energie kann nicht raus", bringt es Geyer auf den Punkt.
"Da Präventionsunterricht im Corona-Jahr oft weggefallen ist, erleben wir, dass die Schüler nun weniger Rücksicht aufeinander nehmen und weniger aufeinander zugehen", berichtet Matthias Steinbach. Auch das Zusammenleben in den Klassen sei durch Corona schwieriger geworden: "Die Fünftklässler haben sich noch nicht ohne Maske kennengelernt, und Aktivitäten, die eine Klasse zusammenschweißen können, wie zum Beispiel das Schullandheim, fallen aus", erklärt Geyer.
Auch mit dem Homeschooling an sich kommen natürlich nicht alle Schüler gut klar: "Einige haben verlernt, sich 45 Minuten lang hinzusetzen und sich zu konzentrieren, da das Ablenkungspotenzial beim Fernunterricht groß ist, und der Lehrer nicht kontrollieren kann, ob sich die Schüler neben dem Unterricht mit anderen Dingen beschäftigen", erläutert Mader. "Besonders betroffen sind natürlich Schüler, die schon vor Corona eher leistungsschwach waren", ergänzt Geyer. Besonders für Grundschüler sei Homeschooling generell eher ungeeignet, da sie, so Geyer, noch sehr auf die Person des Lehrers fixiert seien und ihn als direktes Gegenüber bräuchten.
Je nach Alter reagieren Kinder und Jugendliche unterschiedlich auf den Corona-Stress: Schüler der sechsten bis achten Klassen flüchteten sich verstärkt in die Scheinwelt der Medien und Spielkonsolen, während Ältere manchmal sogar ausreißen, wenn sie sich überfordert fühlen: "Viele Familien wissen momentan nicht, wie sie überhaupt Familie sein sollen, und gerade Mädchen der achten und neunten Klassen laufen dann manchmal weg und kommen dann zum Beispiel ein paar Tage lang bei Freunden unter", sagt Steinbach. "Gerade Jugendliche gehen momentan öfter unter, weil die Eltern denken, dass sie aufgrund ihres Alters keine Unterstützung bräuchten, obwohl das nicht der Fall ist. Bei Grundschülern ist das anders, weil oft ein Elternteil zu Hause ist."
Ältere Schüler hätten häufig konkrete Zukunftsängste: "Sie fragen sich, ob sie wegen der Krise eventuell keinen Ausbildungsplatz bekommen oder ob ihr Abschluss weniger wert ist", berichtet Mader. "Die Abschlussklassen können teilweise zum Präsenzunterricht kommen und sind darüber auch heilfroh, da das ihrem Alltag Struktur gibt", sagt Steinbach. Und momentan sei für Kinder und Jugendliche nichts wichtiger als Struktur und ein geregelter Tagesablauf, da sind sich die Schulsozialarbeiter einig. Die Eltern müssten, auch wenn sie selbst gestresst seien, versuchen, Rituale einzuhalten und ihren Kindern Aktivitäten anzubieten. "Vormittags wird gelernt und nachmittags wird dann gespielt oder gebastelt. So hat das Kind etwas, auf das es sich verlassen kann", sagt Geyer und bringt es gemeinsam mit ihren Kollegen auf den Punkt: "Die Kinder dürfen im Leben der Eltern nicht nebenher laufen, das ist das Wichtigste."