Von Rüdiger Busch
Gommersdorf. "Ich habe dem Mörder schon lange verziehen", sagt Irene Pfeiffer über den Mann, der ihr vor 25 Jahren die Tochter brutal genommen hat. Hass oder Rachegefühle empfinde sie nicht: "Damit könnte ich nicht leben", sagt die 82-Jährige.
Doch der Schmerz über den Verlust ist bei ihr und bei ihrem Sohn Hubert auch ein Vierteljahrhundert später noch so groß wie am ersten Tag. Der ungelöste Mord an Gabriele Pfeiffer wirft quälende Fragen auf, die bis heute an den Angehörigen nagen. Umso verständlicher ist der Wunsch ihrer Mutter: "Ich möchte dem Täter nur einmal in die Augen schauen!"
Wenn Irene Pfeiffer über ihre Tochter spricht, die nur 27 Jahre alt werden durfte, entsteht vor den Augen des Betrachters das Bild einer lebensbejahenden jungen Frau, die mit beiden Beinen im Leben stand und bei der Familie und Freunden einen hohen Stellenwert genoss. "Sie war ein problemloses Kind und war immer um Ausgleich bemüht." Später als Jugendliche und als junge Frau sei sie eine wichtige Ratgeberin im Freundeskreis gewesen: "Sie war beliebt und wurde geschätzt."
Nicht von ungefähr wollte sie mit Menschen arbeiten, erfüllte sich den Berufswunsch Erzieherin und hatte wenige Monate zuvor ein freiwilliges Praktikum in einer Praxis für kindliche Entwicklungsförderung begonnen. Auch privat sei alles nach Wunsch gelaufen: "Gabriele hatte seit acht Jahren einen festen Freund und sich sehr gut mit ihm verstanden."
Doch dann kam die Nacht von Freitag auf Samstag, 17. auf 18. Juni 1994. Eine Nacht, in der sich das Leben von Gabrieles Angehörigen für immer verändern sollte. Die Nacht, in der die junge Frau ihr Leben verlor. Die Stunden vor und nach der schrecklichen Tat sind bei Hubert Pfeiffer und seiner Mutter noch so präsent, als wäre das alles erst gestern geschehen.
Gabriele Pfeifer. Foto: privat
Mutter und Tochter waren an diesem Freitagabend bester Stimmung: Gemeinsam bereiteten sie sich zuhause auf die am nächsten Tag stattfindende Hochzeit von Gabrieles Cousin vor, probierten Kleider an und lackierten sich die Fingernägel.
Währenddessen schaute sich Gabrieles Freund im Sportheim das Eröffnungsspiel der Fußball-WM in den USA an. Nachdem Deutschland durch ein Tor von Jürgen Klinsmann Bolivien mit 1:0 besiegt hatte, holte er Gabriele gegen 23 Uhr zu Hause ab: Die beiden wollten mit weiteren Freunden noch das Fest im sieben Kilometer entfernten Erlenbach besuchen. Dort spielte an diesem Abend anlässlich der 700-Jahr-Feier des Ravensteiner Ortsteils die in der Region weithin bekannte und beliebte Band "Danger Rose", zu deren Auftritten Gabriele häufig ging.
Hubert Pfeiffer erinnert sich noch genau daran, wie sich seine Schwester an diesem Abend von ihm verabschiedet hat. Das letzte "Tschüs!" bleibt für immer. Er selbst wäre normalerweise auch auf das Fest nach Erlenbach gegangen. Wegen eines beim Fußball zugezogenen Kreuzbandrisses ging er damals aber an Krücken und blieb deshalb zu Hause.
Mitten in der Nacht wurde er durch einen Anruf geweckt: Gabrieles Freund rief - vom Autotelefon ihres Ex-Freundes aus - an, und erkundigte sich, ob sie schon zu Hause wäre. Sie war nämlich von einem Toilettengang nicht zurückgekommen und wurde von ihrem Freund, der sich zu diesem Zeitpunkt schon Sorgen machte, vermisst.
Hubert Pfeiffer stieg ins Auto und fuhr nach Erlenbach. Was ihn dort erwartete, wird der 56-Jährige sein Leben lang nicht mehr vergessen. "Geh’ da nicht hin!" Mit diesen Worten wurde er von einem Bekannten am Festplatz empfangen.
Idyllisch fließt der Erlenbach vor sich hin - kaum vorstellbar, was sich hier vor 25 Jahren Schreckliches ereignet hat. Foto: R. Busch
Gabrieles Freund hatte sie gerade im Erlenbach liegend entdeckt. An den anschließenden Wiederbelebungsversuchen beteiligte sich auch ihr Bruder, aber letztlich vergeblich: "Es war nichts mehr zu retten!"
Die Familie, die Freunde, das ganze Dorf stand unter Schock. Und von Anfang an beschäftigte eine Frage die Menschen in der ganzen Region: Wer war es? Für die Polizei war jeder männliche Festbesucher ein möglicher Täter. Obwohl die Polizei von Anfang an darauf hingewiesen hat, dass es auch jemand aus Gabrieles Bekanntenkreis sein kann, stand für die Ermittler und die Familie eines schnell fest: Ihr Freund war es nicht. Er litt genauso unter der Tat wie Gabrieles Familie. Noch heute besteht ein gutes Verhältnis zwischen ihm und der Familie.
"Mir war klar: Es kann niemand sein, den ich kenne", sagt Hubert Pfeiffer. Doch Zweifel blieben: Wenn sich eines Tages herausstellen sollte, dass der Täter 25 Jahre und mehr unbemerkt unter ihnen gelebt hat, wäre das für Gabrieles Bruder die schlimmste Vorstellung überhaupt. Seine Mutter ist dagegen davon überzeugt, dass ihre Tochter kein Zufallsopfer wurde, dass der Mörder sie gekannt hat: "Vielleicht hat er sie gerngehabt, und seine Gefühle wurden von ihr nicht erwidert."
"Gabriele" - so lautet der Titel der Bachelorarbeit von Ilka Pappenscheller. Sie ist die Tochter von Hubert Pfeiffers Lebensgefährtin und hat in der berührenden Arbeit fotografisch festgehalten, was Gabrieles Fehlen für das Leben ihrer Angehörigen bedeutet. Das Foto zeigt die Aktenwand zum Mordfall Pfeiffer im ehemaligen Polizeipräsidium Mosbach. Foto: Ilka Pappenscheller
Statt über den Täter und seine Motivation zu grübeln, ging es für Irene Pfeiffer direkt nach der Tat vor allem darum, sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Erst drei Jahre zuvor war ihr Mann gestorben. Mit Mitte 50 war sie plötzlich Witwe. Hinzu kamen weitere Todesfälle in der Familie. In dieser Zeit der Trauer war ihr Gabriele eine besonders große Stütze. Der Mord habe dann aber alles zum Einsturz gebracht: "Wir hatten so eine harmonische Familie - und dann war plötzlich alles kaputt. Ich weiß heute nicht, wie ich es damals geschafft habe, weiter zu funktionieren."
Doch Irene Pfeiffer funktionierte. Sie versuchte, stark zu sein - für ihren Sohn und für Gabrieles Freund, die in den ersten Wochen und Monaten ihre Unterstützung benötigten. "Ich habe versucht, die beiden jungen Männer aufzubauen", berichtete die 82-Jährige. Statt sich zu verkriechen, ist sie unter Leute gegangen, hat zur Ablenkung mehrere Ausbildungen zur Übungsleiterin in Angriff genommen und ein halbes Jahr nach dem Mord eine Gymnastikgruppe übernommen. Noch heute ist ihr regelmäßiges Gedächtnistraining und die tägliche Bewegung wichtig. Aber auch die Musik hat ihr immer geholfen.
"All diese Beschäftigungen waren wie eine Therapie für meine Mutter", sagt Hubert Pfeiffer, was Irene Pfeiffer bestätigt: "Ich hatte dadurch gar keine Zeit, mich mit der Trauer zu beschäftigen."
Ganz anders ist Gabrieles Bruder mit dem Mord an seiner Schwester umgegangen: "Ich konnte gar nicht mehr weggehen. Ich habe mich komplett zurückgezogen, ja fast versteckt, weil ich das Gefühl hatte, dass mich alle anschauen und sagen: ,Das ist der Bruder von Gabriele.’" Deshalb ist er anfangs den Leuten aus dem Weg gegangen und hat sein Studium für ein Semester auf Eis gelegt.
"Erst viel später ist es besser geworden", bekennt Hubert Pfeiffer. Doch eines ist geblieben: Über das Geschehene zu sprechen, fällt ihm schwer: "Ich verdränge es, so gut es geht. Ich rede mit meiner Mutter auch wenig darüber, weil wir beide denken, wir würden dem anderen damit weh tun, wenn wir das Thema ansprechen." Jetzt haben die beiden gerade zwei Stunden lang über Gabriele und den Mord gesprochen, und man merkt, wie schwer es Hubert und Irene Pfeiffer fällt.
"Ich versuche, im Alltag nicht daran zu denken. Wenn es aber doch einmal hochkommt, dann beschäftigt es mich einige Tage und zieht mich runter." Dann ist die Erinnerung so frisch, als wäre das Ganze erst gestern passiert.
Noch heute rast sein Puls, wenn das Telefon spätabends oder nachts klingelt: "Ich denke sofort, es ist etwas Schlimmes passiert." Den Anruf aus der Mordnacht wird Hubert Pfeiffer nie vergessen. Auch seine Mutter kann nicht mit der schrecklichen Tat abschließen. "Ich denke oft an Gabriele. Wie würde sie heute leben, wäre sie verheiratet, hätte sie Kinder?"
"Die Wunde ist so groß, das lässt sich gar nicht beschreiben", sagt Irene Pfeiffer. Die Zeit heilt keine Wunden. Sie sorgt höchstens dafür, dass man sich an den Schmerz des Verlustes gewöhnt. Aber der Schmerz, der bleibt für immer.
Info: Hinweise an die Kriminalpolizei Heilbronn, Telefon 07131/1044444.
Erster Kriminalhauptkommissar Thomas Nohe im Interview
Der Mord an Gabriele Pfeiffer lässt ihn seit 25 Jahren nicht los: Erster Kriminalhauptkommissar Thomas Nohe war damals als einer der ersten Ermittler am Tatort, und noch heute hat er die Akten an seinem Arbeitsplatz im Heilbronner Polizeipräsidium ständig in Griffweite. Dem 59-Jährigen, der den Arbeitsbereich Kapitaldelikte leitet, sind auch ein Vierteljahrhundert später noch eine Vielzahl an Details präsent.
Thomas Nohe. Foto: schat
Wie vielen Spuren ist die Sonderkommission damals nachgegangen?
Zum Schluss waren es über 1700. Wir haben jeden Festbesucher gefragt, mit wem er gekommen, mit wem er wann gegangen ist und dies gegenseitig abgeglichen. Am Ende hatten wir mehr als 1000 Festbesucher befragt. So entstand ein ungemein scharfes Bild des Abends. Doch dann wird es plötzlich unscharf: Nur ein einziger Zeuge hat Gabriele Pfeiffer gesehen, wie sie gegen 2.15 Uhr das Festzelt durch den Seitenausgang verlassen hat. Obwohl zu diesem Zeitpunkt rund um das Festgelände viel los war, hat sich niemand gemeldet, der das Opfer oder einen möglichen Täter außerhalb des Festzeltes gesehen hat. Irgendjemand müsste aber etwas mitbekommen haben, auch wenn es in seinen Augen unbedeutend war. Warum man das dann für sich behält, kann ich nicht nachvollziehen. Mutmaßliche Zeugen sollten sich vergegenwärtigen, was sie sich erhoffen würden, wenn die eigene Familie betroffen wäre.
Wurde Gabriele zufällig zum Opfer?
Zunächst einmal muss ich festhalten, dass wir bei den Ermittlungen nie etwas Negatives über sie gehört haben. Sie wurde geschätzt und war beliebt. Grundsätzlich gilt: Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungsdelikte, wobei der Begriff Beziehung eine große Bandbreite besitzt. Aber reine Zufallsopfer sind ganz, ganz selten. Klar ist, es muss jemand gewesen sein, der einen Bezug zum Ort oder zur Veranstaltung hatte. Ein Fremder wäre nachts nicht durch Erlenbach gefahren.
Die Suche nach dem Täter blieb bis heute ohne Erfolg ...
Wir haben damals alle überprüft, ihr Umfeld, natürlich auch ihren Freund und ihren Ex-Freund, auch die Schausteller, die anfangs ins Visier geraten waren. Und wir haben das Blut von 600 männlichen Festbesuchern untersucht. Die vorhandenen DNA-Spuren waren durch die Liegezeit im Wasser leider von schlechter Qualität. Die DNA-Technik wird jedoch immer besser, und vielleicht führt der technische Fortschritt eines Tages plötzlich doch noch zur Lösung des Falles.
Wird der Mörder je gefasst?
Wir werden auf jeden Fall alles dafür tun: Der Fall wird bei uns nie in Vergessenheit geraten, auch wenn ich im nächsten Jahr in Ruhestand gehe. Meine Mitarbeiter kennen den Fall und werden immer ein Auge darauf haben. Noch heute kommen jedes Jahr bis zu fünf Hinweise herein, aber bislang war nichts Greifbares darunter. Aber vielleicht bricht nach so langer Zeit endlich jemand sein Schweigen und führt uns mit seiner Beobachtung oder seinem Hinweis zum Täter ...