Von Elisabeth Englert
Eubigheim/Clarksville. Die "Black Lives Matter"-Bewegung, die Massengräber während der Hochphase der Corona-Pandemie in New York, der populistische Wahlkampf – es waren und sind aufwühlende und mitunter verstörende Bilder, die aus den Vereinigten Staaten von Amerika über unsere Mattscheiben flimmern. Insbesondere der nicht für möglich gehaltene Sturm eines entfesselten Mobs auf das Kapitol sowie die damit verbundene Anspannung vor dem Inauguration Day – der Amtseinführung des neuen Präsidenten Joe Biden – erschütterten und entfremdeten nicht nur westliche Demokratien und hielten die Welt in Atem.
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit seinem Traum von Freiheit und Demokratie ist vielen Deutschen fremd geworden. Doch wie erleben und empfinden es unsere Landsleute, die dort leben, dort ihre zweite Heimat gefunden haben? Die Eubigheimerin Uschi Scherer, die seit mehr als 30 Jahren in den Staaten lebt, berichtet im Gespräch mit der Rhein-Neckar-Zeitung von ihrem Leben und der aktuellen Lage.
Gleich vornweg: Sie freue sich, dass Donald Trump nicht wiedergewählt wurde. Sie hielt es ohnehin für "Wahnsinn", dass er vor vier Jahren Präsident wurde. Haben sie und ihr Mann Scott, die auf dem Lande in den Appalachen nördlich von Atlanta leben, sich bei Trumps erstem Wahlkampf noch mit ihren Nachbarn über politische Themen ausgetauscht, so seien diese im jüngsten Wahlkampf gänzlich umschifft worden. Zugunsten einer unbelasteten Nachbarschaft wurde dies ausgeklammert. Überhaupt empfand sie es in Georgia, der zum Swing State wurde, überraschenderweise verhältnismäßig ruhig.
Nur zu gut erinnere sie sich an persönliche Anfeindungen bei Barack Obamas Wahlkampf. Damals noch in Birmingham, Alabama lebend, hatte sie einen Obama-Aufkleber auf ihrem Auto. Mehrmals wurde sie aufgrund dessen im Straßenverkehr von anderen Verkehrsteilnehmern genötigt. Sie fuhren absichtlich dicht auf, bis sich die Wagen fast touchierten, und zeigten ihr den ausgestreckten Finger. "Es war nicht ungefährlich." Insofern könne sie sehr gut nachvollziehen, dass ihr Sohn, der mit seiner Familie in einem Außenbezirk Atlantas lebe, diesbezüglich zurückhaltend sei. Er müsse sehr aufpassen, was er sage, denn wenn man auf der Arbeit sechs bis acht Leute gegen sich habe, "gerät das in der aktuell aufgeheizten Stimmung schnell außer Rand und Band".
Die Mutter zweier erwachsener Kinder gibt auch den Medien eine Mitschuld an diesen Verhältnissen. Fortwährend wurde berichtet, was Trump von sich gegeben habe, auch wenn es unsinnig, beleidigend, rassistisch oder schlichtweg gelogen gewesen sei. So habe sich dies schleichend normalisiert, die Gesellschaft habe sich daran gewöhnt und sei abgestumpft. Nun hoffe sie auf einen neuen anständigen Umgangston in der politischen Auseinandersetzung, einen respektvollen Umgang mit Minderheiten, einen offenen Diskurs ohne Fake News sowie Gewaltfreiheit.
Denn Uschi Scherer bestätigt die Vorwürfe, dass Polizeikräfte bei Kundgebungen der "Black Lives Matter"-Bewegung weitaus gewaltbereiter aufgetreten seien als bei jenen der "Trump-Supporter". Den krönenden traurigen Abschluss bilde hier der Sturm auf das als "Herz der Demokratie" geltende Capitol. Während dabei gewaltbereite Populisten unverhohlen ihre mitgeführten Waffen und Stöcke zur Schau stellten, durften die Teilnehmerinnen der Frauenmärsche gegen Trump nur durchsichtige Taschen und Rucksäcke sowie Transparente ohne Stäbe zum Hochhalten mit sich führen.
Für die 61-Jährige haben sich diese jüngsten heftigen Konfrontationen sichtlich angebahnt, "da die Gewaltbereiten nicht zur Verantwortung gezogen wurden". Nun wünsche sie sich inständig, dass sowohl diesen Verfehlungen als auch den radikalen Tendenzen im Polizeiapparat nachgegangen werde. Wie wenig Vertrauen in diese einstige "Leuchtturm-Demokratie" bestehe, spiegle sich im Wahlverhalten von Scherers Familie wider. Alle – ihr Mann, ihre Kinder und Schwiegerkinder – gingen trotz angespannter Lage und Pandemie bewusst ins Wahllokal zur Stimmabgabe, denn "sie wollten sichergehen, dass ihre Stimmen zählen".
Auch die viel zitierte "gespaltene Nation" sei spürbar. Eine ihrer Freundinnen habe inzwischen Angst vor ihrem Nachbarn, der – durch das Trump-Regime ermutigt – sich nun offen zu seiner rechtsradikalen Gesinnung bekenne.
Froh sei Scherer indessen, dass in ihrem Wohnumfeld hauptsächlich Sympathiekundgebungen der weißen Mitbürger für die "People of Color" stattfanden. Darin zeige sich, dass diese Anliegen sowie die damit verbundene Polizeigewalt den "Leuten sehr zu Herzen geht". Grundsätzlich sei Atlanta eine liberale und progressive Stadt. In den entfernteren Winkeln, wo sie lebe, sei die Gesellschaft weitaus konservativer, doch wachse auch hier eine liberalere, junge Generation nach.
Bezeichnend sei, dass die politische Kultur nur "demokratisch oder republikanisch" kenne, dass man "entweder blau oder rot ist". Selbst wenn man sich nicht mit einer parteipolitischen Grundsatzfrage identifiziere, sehe man darüber hinweg. "Es wäre für dieses Land besser, wenn die Parteienlandschaft breiter wäre", ist die Wahlamerikanerin überzeugt. Früher ginge dies noch, als die Gesellschaft nicht so vielfältig gewesen sei, doch nun funktioniere das nicht mehr. "Die Parteien decken die Bevölkerung nicht mehr ab."
Die Anspannung vor Joe Bidens Amtseinführung sei sehr groß gewesen, jeden Morgen habe sie zuerst in den sozialen Netzwerken geschaut "ob was passiert ist". Die Umstände seien sehr "beunruhigend gewesen und fühlten sich an wie auf einem Pulverfass". Dennoch hoffte sie, dass alles ruhig bleiben werde, und empfand die Amtseinführung als "nationales Aufatmen."
Entsetzlich empfand sie auch den Umgang der alten Regierung mit der Pandemie. Es wurde Impfstoff versprochen, aber alles sei so unorganisiert verlaufen, die Zuständigkeiten nicht geregelt gewesen, eine schlüssige Impfstrategie sei mithin nicht klar zu erkennen gewesen. Viele seien nun erfreut, "dass jemand Fähiges kommt und richtig zupackt". Bereits als designierter Präsident habe Biden Pläne gemacht und ein Kompetenzteam zusammengestellt, das unverzüglich die Arbeit aufgenommen habe – bei rund 400.000 Toten überfällig.
Die Hundeliebhaberin und ihr Mann seien froh, so abgeschieden inmitten der bewaldeten Berge zu wohnen. Nur einmal im Monat fahre sie in einen eine Stunde entfernten großen Einkaufsmarkt. "Dann wird aber aufgeladen", lacht sie. Überhaupt vermisse sie nichts. Sie liebe die Natur rund um ihr Haus, liebe die Waldspaziergänge mit Schäferhund "Karl", der das Grundstück "sauber hält". Gemeint ist damit weniger Karls Stubenreinheit, vielmehr halte der wachsame Vierbeiner die Bären auf Abstand.
Froh sei sie außerdem über die guten Krankenversicherungen von ihren Familien. Viele andere könnten sie sich schlichtweg nicht leisten. Die monatlichen Beiträge seien "irrsinnig teuer", ungeachtet der Zuzahlungen und Eigenanteile. "Ein Sicherheitsnetz wie in Deutschland fehlt", Existenzangst im Krankheitsfalle sei für viele US-Bürger sehr real. Kämen die Absolventen vom College, hätten sie – je nach Studiengang – 80.000 bis 300.000 Dollar Schulden. Da stehe die Krankenversicherung nicht im Vordergrund. Zu Scherers Anfängen hätten die College-Abgänger einen guten Job bekommen, sich ein Haus leisten können. "Das ist jetzt nimmer so."
Im Herbst soll die circa 7500 Kilometer große Distanz überwunden und die alte Heimat besucht werden. Neben Familie, Freunden und Spaziergängen durch die Ortschaft freue sie sich schon "wahnsinnig auf Zwetschgenknödel und überhaupt auf alles mit Zwetschgen". Denn hier gebe es lediglich trockene, zum Dörren geeignete Früchte, "keine saftigen". So findet in diesen für uns gewöhnlichen blauschwarzen und eiförmigen Früchten sogar das Land der unbegrenzten Möglichkeiten seine Grenze.