Internist Dr. Dierk-Christian Roos sprach vor rund 40 Zuhörern zum gesundheitlichen Risiko durch freigemessenen Betonmüll vom Kernkraftwerk Obrigheim. Foto: Martin Bernhard
Von Martin Bernhard
Buchen. Wie schädlich ist zusätzliche radioaktive Strahlung für den Menschen, auch wenn diese sehr gering ist? Dieser Frage widmete sich am Donnerstagabend der Internist Dr. Dierk-Christian Vogt auf Einladung der "Bürgerinitiative gegen Müllgeschäfte" (BIGMUEG) im Hotel "Prinz Carl". Rund 40 Zuhörer nahmen die Erkenntnis mit, dass es sich bei einer Strahlenbelastung in Höhe von 10 Mikrosievert im Jahr keineswegs um eine Bagatelle handeln muss.
Zwei Stadt- und zwei Kreisräte, teilweise in Personalunion, interessierten sich für die andere Sicht auf den sogenannten "freigemessenen Müll" aus dem Kernkraftwerk Obrigheim. Landrat und Bürgermeister ließen sich für ihre Nichtteilnahme an der sehr kurzfristig anberaumten Veranstaltung entschuldigen. Am Ende stellte Kreisrätin Dorothee Roos von der Fraktion "Bündnis 90/Die Grünen" fest: "Ihr Vortrag hat mich sehr nachdenklich gemacht."
Dr. Dierk-Christian Roos, Mitgründer einer BIGMUEG vergleichbaren Bürgerinitiative in Schwieberdingen, hatten seinen Vortrag unter das Motto "Vertrauen" gestellt. "Kann man dem Mikrosievert-Konzept vertrauen?", frag-te der Mediziner. Er stellte fest, dass es sich dabei nicht um wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse handele, sondern um Annahmen, um Hypothesen. So messe man in der Freimesskammer die Strahlendosis des Mülls in Becquerel. Die Strahlenbelastung in Mikrosievert könne man dagegen nicht messen. Diese werde nach verschiedenen Faktoren errechnet. Diese seien im Jahr 2004 von einem privatwirtschaftlichen Institut festgelegt worden.
Inzwischen habe man festgestellt, dass höhere Strahlungsbelastungen zu einer Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen können. Selbst Christian Küppers vom Öko-Institut Darmstadt, auf dem sich das Umweltministerium in Stuttgart beruft, habe seine Meinung geändert und eine "neue quantitative Einschätzung der Strahlungswirkung" gefordert, zum Beispiel um das Doppelte. Der "Bund für Umwelt und Naturschutz" (BUND) fordert sogar das Zehnfache. Demnach müsste man den Richtwert von zehn auf fünf oder einen Mikrosievert reduzieren.
"Es gibt keine Strahlendosis ohne Risiko", betonte Dr. Vogt. Er warf Umweltminister Franz Untersteller vor, die Strahlenverordnung zu missachten. Dort sei im Paragraph 6 geregelt, dass man die Strahlenbelastung, auch wenn sie unter einem Grenzwert liegt, so gering wie möglich halten müsste.
Vogt berief sich auf weitere Erkenntnisse, nach denen eine Erhöhung der Strahlenbelastung um zehn Mikrosievert im Jahr mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 1 750.000 zu einer tödlichen Krebserkrankung führe. "Das bedeutet also 47 Krebstote", stellte Vogt fest. "Ist das eine Bagatelle?" Er verglich diese Strahlung auch mit der Belastung durch aktive Kernkraftwerke. Diese erhöhten für die Menschen in der Nachbarschaft die Belastung um fünf Mikrosievert im Jahr.
Und wieder zitierte der Referent Christian Küppers vom Öko-Institut: "Auch innerhalb der Dosisgrenzwerte gibt es ein Risiko für spätere tödlich verlaufende Krebserkrankungen und späte Schäden der Nachkommen."
Auch die Vertrauenswürdigkeit der Kernkraftwerksbetreiber stellte Vogt in Frage. Zwar werde das zu deponierende Material abgewaschen, sandgestrahlt und in ein Ultraschallbad getaucht, um einen Grenzwert von weniger als zehn Mikrosievert zu erreichen. Doch man gebe sich eher mit einem Wert in Höhe von 9,9 Mikrosievert zufrieden statt zum Beispiel mit 0,9. Außerdem erinnerte Vogt an die vorgetäuschten Sicherheitskontrollen im KKW Philippsburg im Jahr 2016.
Inwiefern man dem Betreiber der Deponie Sansenhecken trauen könne, konnte Vogt nicht beurteilen.
Schließlich kritisierte Vogt Umweltminister Franz Untersteller. Denn der Betonmüll aus den Kernkraftwerken müsse nicht unbedingt auf kreiseigenen Deponien entsorgt werden. Das Gesetz erlaube es auch, Dritte damit zu beauftragen. Auch eine betriebsinterne Abfallaufbereitung sei nach dem Kreislaufwirtschaftsgesetz möglich.
Abschließend forderte Dr. Dierk-Christian Vogt, das "kleinste Übel" zu wählen. "Warum wird so ein Risiko aufgenommen, wenn man das Material auf dem Kernkraftgelände lassen könnte?", fragte er. Dort befände es sich unter atomrechtlicher Aufsicht. Auch die deutsche Sektion der Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs - Ärzte in sozialer Verantwortung" fordert, die Kernkraftwerke stehen zu lassen und zu entkernen. "Ein gesundheitliches Risiko des freigemessenen Mülls ist vorhanden, aber es ist vermeidbar", fasste Vogt zusammen. "Die geplante Vorgehensweise, den Müll auf Deponien zu entsorgen, widerspricht den Grundsätzen des Strahlenschutzes."
Arno Scheuermann, Frank Hemberger und Markus Frei von BIGMUEG appellierten an die Bürger, mehr Widerstand zu leisten und zum Beispiel Mandatsträger anzuschreiben.