Hirschberg-Leutershausen. (mpt) Ein Fund in einem Marmeladenschrank, ein fast vergessener Karton, und die Fragen seiner Tochter: Drei Dinge, die das Leben von Gerald Sander komplett verändern sollten, auch wenn ganze dreißig Jahre dazwischen liegen. Mit dem Film "Die Köchin des Kommandanten" erinnert das Olympia-Kino in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis "Ehemalige Synagoge Leutershausen" anlässlich der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee vor 75 Jahren auf persönliche Weise an die Schicksale und Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs. Und legt offen, was meist im Verborgenen bleibt.
Der 50-jährige Weinheimer Sander ist der Enkel von Sophie Stippel, die als Zeugin Jehovas im Konzentrationslager als Haushälterin arbeiten musste. Für Rudolf Höß, den Leiter des Massenvernichtungslagers. Der Film des Mannheimer Stadtarchivs Marchivum begleitet den Enkel bei der Spurensuche, zeichnet die Lebenswege seiner Großmutter und von Rudolf Höß nach, zeigt, wie die nachfolgenden Generationen gegen das Vergessen und Verdrängen ankämpfen müssen, auch in der eigenen Familie. "Lange Zeit spielte es keine große Rolle in meinen Leben", gesteht Sander und erinnert sich an Erzählungen seiner Großmutter über Auschwitz am Küchentisch, als er acht Jahre alt war. Zu jung, um gezielte Fragen zu stellen, und als Sophie Stippel 1985 im Alter von 93 Jahren starb, blieb vieles ungeklärt. Und doch kam der erste Stein ins Rollen.
Bei der Haushaltsauflösung kommt unter den Marmeladengläsern und den Blümchen-Papier des Flurschranks ein seltenes Dokument zum Vorschein: Der KZ-Ausweis der Großmutter, versehen mit der Unterschrift von Rudolf Höß. Sander hebt den Fund wie andere Dokumente in einem Karton auf. "30 Jahre blieb er ungeöffnet", verrät er. Bis seine Tochter vor knapp fünf Jahren in der Schule den Zweiten Weltkrieg durchnimmt, und den Ausweis der Ur-Oma sowie einen "Lila Winkel", das Zeichen, das Zeugen Jehovas am Ärmel tragen mussten, mit in den Unterricht nimmt. "Seitdem führe ich im Grunde zwei Leben: Zum einen mein Berufs- und Familienleben, zum anderen bin ich nun häufig mit Sophie unterwegs", sagt Sander.
Denn der anfängliche Verdacht, dass sich Opfer und Täter kannten, bestätigt sich. Gemeinsam mit den Marchivum-Mitarbeitern findet der Enkel heraus, dass Höß wie seine Großmutter zeitweilig in der Augartenstraße aufwuchs. Vor allem aber spürt er Sophies Lebensgeschichte nach, die sich nach dem frühen Tod ihrer Tochter den Zeugen Jehovas anschloss, um wieder Halt zu finden. Auch unter dem Druck des Nazi-Regimes weigert sie sich, ihre Religion abzulegen: sie muss ins Gefängnis, muss ihren Ehemann und ihre andere Tochter Edith, die Mutter von Gerald Sander, zurücklassen. "Meine Mutter hegte deshalb lange einen Groll, sie fühlte sich im Stich gelassen", erzählt Sander. Aber er lernt auch die Sicht der Großmutter kennen: Als Denunziantin und Verräterin hätte sie gegen ihren Glauben verstoßen. 1942 wird sie in die Todesfabrik deportiert. "Dass Höß wohl ihren Namen auf der Liste erkannte, hat ihr letztlich das Leben gerettet", weiß Sander.
Und kurz nach Veröffentlichung des Films kommt es zu einer weiteren schicksalhaften Begegnung. Mit Rainer Höß, dem Enkel von Rudolf Höß, der seine Familiengeschichte ebenfalls mit einem Dokumentarfilm aufarbeitet. "Ich, aus der Sicht der Opfer, kann mit der Biografie leben. Aber wie sieht es für die Nachfahren der Täter aus? Ich habe eine Verbindung gefühlt, ob ich wollte oder nicht", wirft Sander in den Raum.
Zur Premiere des Films "Enkel" am 9. Februar im Modernen Theater in Weinheim wird deshalb auch Stippels Enkel zu Gast sein. "Es gibt kaum noch Zeitzeugen, aber es scheint eine neue Generation heranzuwachsen. Die Enkel, die sich gegen das Vergessen einsetzen", sagt Wiebke Dau-Schmidt, die Vorsitzende des Förderkreises. Und das sichtlich berührte Publikum spendet Beifall. Für Sander, aber auch für Rainer Höß.