Von Katharina Schröder
Edingen-Neckarhausen. Gemeinderat und Kreisrat Edgar Wunder (Die Linke) beteiligte sich mit dem Verein "Mehr Demokratie" nach eigenen Angaben schon bei über 300 Bürgerbegehren. Warum das für ihn ein Dienst an der Demokratie ist, und wie er Bürgerentscheide und Bürgerinitiativen (BI) sieht, sagt er im RNZ-Interview.
Herr Wunder, stimmt der Eindruck, dass durch Stuttgart 21 eine Neinsager-Kultur entstanden ist?
Sicher nicht, denn jede Bürgerinitiative ist auch für etwas. Es ist sogar gesetzlich so geregelt, dass das "Ja" bei einem Bürgerentscheid immer für die Position der Bürgerinitiative steht.
Befrieden Bürgerentscheide die Situation vor Ort oder spalten sie die Bürgerschaft?
Der Konflikt um ein Sachthema ist schon vor einem Bürgerbegehren da. Weil er auf andere Weise nicht gelöst werden kann, kommt es zum Bürgerentscheid. Dann gibt es eine Dynamik wie bei jedem Wahlkampf.
Das heißt?
Je näher der Abstimmungstermin kommt, desto mehr verschärfen sich die Auseinandersetzungen. Das ist bei jeder Wahl so, die Leute streiten sich. Und das ist nichts Schlechtes, denn Streit gehört zur Demokratie, sonst wäre die Demokratie tot. Mit dem Tag des Bürgerentscheids kehrt sich das um. Dann tritt eine Befriedung ein, weil die Verlierer akzeptieren, dass die andere Seite gewonnen hat. Die Befriedung tritt schnell ein, wenn die vorausgehende Kontroverse fair ausgetragen wurde, etwas langsamer, wenn sich manche unfair behandelt fühlten. Aber letztlich haben alle Wahlen und Bürgerentscheide eine befriedende Wirkung.
Sollte es mehr Bürgerentscheide geben?
In Baden-Württemberg gibt es im Durchschnitt 25 Bürgerentscheide pro Jahr. Damit kommt es in einer konkreten Gemeinde statistisch gesehen nur alle 44 Jahre zu einem Bürgerentscheid. Die daran beteiligten Menschen sind 44 Jahre später in der Regel nicht mehr aktiv. Es ist also schwer, Erfahrungen mit Bürgerentscheiden innerhalb einer Gemeinde weiter zu geben, das ist ein großes Problem. Insofern gibt es zu selten Bürgerentscheide.
In Hirschberg findet derzeit ein Bürgerbegehren gegen die Erweiterung des Gewerbeparks statt. In diesem Zusammenhang hat die dortige FDP-Fraktion vor einer "Räterepublik" gewarnt. Was sagen Sie dazu?
Das ist so unsinnig, dass ein Kommentar entbehrlich ist.
Und wenn Sie es ernsthaft kommentieren müssten?
Im Grundgesetz, in der baden-württembergischen Verfassung und in der Gemeindeordnung sind direktdemokratische Instrumente wie Bürgerentscheide fest als Bestandteil unseres politischen Systems verankert. Das Volk kann seinen Willen durch Wahlen und eben auch durch Abstimmungen über Sachfragen kundtun. Wer das in Abrede stellen will, vertritt verfassungsfeindliche Parolen.
Sind Bürgerentscheide repräsentativ?
Eine Studie der Universität Stuttgart hat gezeigt, dass durch Bürgerentscheide getroffene Entscheidungen repräsentativer sind als Entscheidungen von Gemeinderäten – weil mehr Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen abstimmen. Bei Bürgerentscheiden liegt die durchschnittliche Beteiligung in Baden-Württemberg bei 52 Prozent. Das entspricht der typischen Beteiligung bei Kommunalwahlen. Die Vorstellung, dass die Beteiligung an Bürgerentscheiden geringer wäre als bei Wahlen, ist empirisch unzutreffend.
Alle Wahlen und Bürgerentscheide haben letztendlich eine befriedende Wirkung, findet Edgar Wunder. Foto: Roland Weihrauch/dpaOft versucht man, Bürger einzubinden, zum Beispiel durch Ideenwerkstätten. Diese Angebote sind aber meist schlecht besucht. Warum ist das so, und was könnte helfen?
Ein wesentlicher Faktor ist, dass die Bürger wissen: Bei derartiger "Beteiligung" können sie gar keine Entscheidungen treffen. Die trifft nach wie vor der Gemeinderat. Das ist für sie natürlich relativ langweilig. Beim Bürgerentscheid hingegen hat der Gemeinderat nichts mehr zu entscheiden, er darf nicht einmal das Ergebnis bestätigen. Die durch einen Bürgerentscheid getroffene Entscheidung tritt unmittelbar in Kraft. Um lediglich ein Meinungsbild zu bekommen, könnte eine Bürgerbefragung per App oder Brief helfen. Da ist die Anforderung geringer als abends eigens zu einer Veranstaltung gehen zu müssen. Für intensive Dialoge sind aber auch persönliche Begegnungen wichtig.
Man könnte sagen, dass Bürger es sich leicht machen, wenn sie gegen einen Vorschlag der Verwaltung stimmen, denn danach sind sie raus. Stößt Ihnen das als Gemeinderat bitter auf, wenn ein Vorschlag, an dem die Verwaltung womöglich jahrelang gearbeitet hat, einfach so weggewischt wird?
Wenn eine Gemeinde über Jahre hinweg etwas plant und dann erst die Bürger beteiligt und feststellt, viele wollen das gar nicht – dann ist die Verwaltung oder der Gemeinderat selbst schuld. Sie hätten mit der Bürgerschaft früher in Dialog treten müssen.
Wenn man Bürgerentscheide in der Region betrachtet, werden Vorschläge der Verwaltung aber meist abgelehnt.
Oft gingen diese Vorschläge schon im Gemeinderat mit nur ganz knappen Mehrheiten durch. Allein das ist bei richtungsweisenden Entscheidungen schon problematisch. Da muss man sich nicht wundern, wenn es dann auch aus der Bürgerschaft Widerstand gibt.
Bürgerentscheide politisieren oft auch Menschen, die sich vorher nicht mit Kommunalpolitik befasst haben. Wie erklären Sie sich das?
Das ist etwas sehr Positives. Menschen werden dadurch hineingezogen in kommunalpolitische Debatten. Und sie merken, das betrifft sie. Sie haben auch eine Meinung und möchten, dass diese berücksichtigt wird. So kann auch zu anderen Themenbereichen kommunalpolitisches Interesse entstehen.
Warum engagieren Sie sich so stark bei Bürgerbegehren?
Erst mal macht es mir Spaß. Zweitens ist es für die Entwicklung unserer Demokratie wichtig. Demokratien erleben weltweit gerade eine Art Härtetest in der Auseinandersetzung mit Populismus. Manche sind schon daran gescheitert oder kurz davor zu scheitern – die USA gehören da dazu. Man muss nach den Ursachen der populistischen Gefahr fragen.
Und die sind?
Viele Bürger können sich nicht mehr mit den politischen Strukturen identifizieren. Sie glauben: "Ich habe gar nichts mehr zu sagen, und die da oben machen sowieso, was sie wollen." Diesem Eindruck kann man nur entgegenwirken, indem man Bürgern vermittelt, dass sie tatsächlich etwas zu sagen haben und auch beteiligt werden.
Wie zum Beispiel mit einem Bürgerentscheid?
Ja, wenn ich bei einem Bürgerentscheid abgestimmt habe, kann ich nicht mehr auf die bösen Politiker schimpfen, weil ich selbst entschieden habe. Es stärkt das Verantwortungsbewusstsein von Bürgern, wenn man sie einbezieht.
Wie begleiten Sie all die Bürgerbegehren?
Über den gemeinnützigen Verein "Mehr Demokratie e.V." berate ich sowohl Bürgerinitiativen als auch Kommunalverwaltungen zur Durchführung von Bürgerbegehren oder zum Umgang mit Bürgerentscheiden. Da geht es etwa darum, wie man Verfahrensfehler vermeidet, oder wie der Prozess für alle Beteiligten fair bleiben kann.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Letzte Woche hatte ich als Vertrauensperson des aktuellen Heidelberger Bürgerbegehrens ein Gespräch mit der Stadtverwaltung. Dabei habe ich vorgeschlagen, alle Pressemitteilungen der Bürgerinitiative einen Tag vorher an die Verwaltung zu schicken. Dann weiß die Stadt, was los ist und kann sich vorbereiten. Umgekehrt wurde das gleiche Vorgehen auch der Stadt vorgeschlagen.
Neben der Beratungstätigkeit wirken Sie also bei manchen Bürgerbegehren auch als Vertrauensperson.
Ja, das verkürzt manchmal den Prozess.
Das heißt?
Bei einem Bürgerbegehren vor zweieinhalb Jahren setzte ein briefliches Pingpong-Spiel zwischen Gemeindeverwaltung und Bürgerinitiative ein, das über sechs Wochen anhielt. Die Bürgerinitiative war völlig verzweifelt, weil sie nie die Antworten von der Verwaltung bekam, die sie brauchte, um das die Unterschriftensammlung für das Bürgerbegehren beginnen zu können. Dann haben sie mich als Bevollmächtigten eingesetzt. Binnen kürzester Zeit hatte ich von der Verwaltung die benötigten Informationen, und das Bürgerbegehren konnte starten. Wäre ich von Anfang an dritte Vertrauensperson gewesen, wäre das ganze Verfahren für alle wesentlich einfacher gewesen. Inhaltlich halte ich mich aber raus, ich helfe nur Bei Verfahrensfragen.
Haben Sie eine Anfrage, eine Bürgerinitiative zu beraten, schon einmal abgelehnt?
Ja, aus zeitlichen Gründen. Und ich lehne eine Mitwirkung dann ab, wenn ich das Bürgerbegehren selbst als rechtlich unzulässig ansehe. Wir sind von der Gemeindeordnung an strenge Vorgaben gebunden, und manche Themen sind eben unzulässig.
Zum Beispiel?
Das Bürgerbegehren muss sich auf etwas beziehen, worüber der Gemeinderat entscheiden könnte. Wenn jemand über den Atomausstieg abstimmen will, ist das unzulässig, weil da der Bundestag zuständig ist, nicht der Gemeinderat. Wenn ich merke, etwas ist unzulässig, rate ich auch von einem Bürgerbegehren ab. Bei "Mehr Demokratie" haben wir unterm Strich auf diese Weise schon mehr Bürgerbegehren verhindert als ermöglicht.
Gibt es auch Bürgerbegehren, bei denen Sie nicht bereit wären, zu beraten oder sich anderweitig einzubringen?
Bürgerbegehren, die für mich eine Schmerzgrenze überschreiten, wären zum Beispiel solche, die in populistischer Weise Rechte von Minderheiten beschneiden wollten. Aber so ein Bürgerbegehren gab es noch nie – und es wäre ohnehin rechtlich unzulässig.