Seit einem Unfall ist Brigitte Wildbergers Gesicht halbseitig gelähmt. Aber sie hat gelernt, damit umzugehen – auch durch ihre Teilnahme am Rednerwettstreit. Foto: Pilz
Von Nicoline Pilz
Edingen-Neckarhausen. "Wie viel anders ist normal?" Brigitte Wildberger fragt sich das schon lange. Die 44-jährige gebürtige Schriesheimerin wohnt seit 2009 in Edingen, ist alleinerziehende Mutter einer Tochter, die in Potsdam studiert. Sie ist gelernte Altenpflegerin und arbeitet als Teamleiterin beim Intensivpflegedienst Heimbeatmungsservice Brambring & Jaschke. Und sie ist schwerbehindert. Seit einem Unfall, als sie am OEG-Bahnübergang in Seckenheim von der Straßenbahn erfasst wurde. Die damals Zehnjährige erlitt einen Schädelbasisbruch, und die gebrochenen Gehörknöchel des linken Ohres zerstörten ihren Gesichtsnerv. Deshalb ist Wildbergers Gesicht halbseitig gelähmt. Das merkt man nur, wenn sie lacht, was sie gerne tut.
"Meine Verletzbarkeit ist keine Schwäche"
Ob sie deshalb anders ist als normal? Was ist normal überhaupt? Für sie als Kind hätte das bedeutet, so zu sein, wie die Masse. Nicht angestarrt und wegen ihres lädierten Gesichts ausgelacht zu werden. Es kränkte sie, wenn andere sagten, sie sei seltsam und sie rede wegen ihrer Schwerhörigkeit zu laut. "Ich wollte gerne normal sein und war ein stückweit besessen davon", erzählt sie.
Die angebotene Reha nach dem Unfall lehnte sie ab und ging sofort zurück aufs Lessinggymnasium. "Ich war schon immer ziemlich willensstark", sagt sie im Gespräch mit der RNZ.
Dass sie doch viel verdrängt und Leidvolles weggeschlossen hatte, war ihr aber wohl irgendwie bewusst. "Ab zwanzig habe ich angefangen, Wege zu suchen, damit umzugehen. Meine Therapeuten sagten, ich bekomme doch alles hin. Aber zu dem tiefen wunden Punkt in mir fand ich keinen Zugang", schildert sie heute. Sie führte Tagebücher: "Über meinen Unfall wollte ich schon immer schreiben."
Im September fand sie für ihr Trauma eine Bühne. Brigitte Wildberger entschloss sich zur Teilnahme an einem internationalen Speakerslam in Berlin. Corona-bedingt war der Rednerwettstreit vom Juni-Termin in Wiesbaden auf den Herbst verschoben worden. Für sie praktisch, denn sie konnte im Vorfeld noch ihre Tochter besuchen.
Eigentlich war ihr die Teilnahme als Extra im sogenannten "Goldpaket" des Autors und Vortragsredners Hermann Scherer zu teuer. Doch das Gefühl, auf die Bühne zu gehen, um zu erfahren, was andere von ihr denken und um über ihren Unfall reden zu können, war stärker. Ein empathischer und pädagogisch geschulter Telefoncoach habe ihr geholfen, ihre "schwarzen Flecken" genauer anzuschauen, berichtet sie. Die vierminütige Redezeit habe ihr nicht gereicht, erzählt Wildberger weiter. Deshalb habe sie improvisiert – eine Fähigkeit, die sie im Umgang mit ihren schwerstkranken Patienten häufig einsetzen muss.
Ein Satz aus einer von mehreren Varianten brennt sich ein: "Meine Verletzbarkeit ist keine Schwäche. Sie ist ein Riss im System, durch den die Magie des Lebens eindringen und die Führung übernehmen kann." Starke Worte, die Jury und Publikum überzeugten.
Brigitte Wildberger gewann den Excellence-Award mit ihrem Beitrag "Wie man mit der Gedankenkraft als Zauberstab Schmerz in Freude verwandelt." "Ich fand es schwierig, die Unfallgeschichte auf vier Minuten zu komprimieren – aber es war gut, sich intensiv damit auseinanderzusetzen", sagt sie. Durch die Teilnahme am Speakerslam habe sie das damalige Geschehen erst richtig annehmen und akzeptieren können. Sich ihrem Schmerz zu stellen, habe sie persönlich weitergebracht, das Verhältnis zu den Eltern entspannt und ihr im Umgang mit ihren Patienten neue Erkenntnisse beschert.
"Es geht darum, sich nicht im Leid zu suhlen, sondern zu überlegen, was ich selbst für mehr Lebensfreude tun kann", meint sie. Eines sei sicher: Wenn man jeden Tag schwerkranke Patienten betreue, werde einem klar, dass Anderssein normal ist. Sie hat angefangen, ein Buch mit dem Titel "Wieviel anders ist normal" zu schreiben. Eine Autobiografie, die schon auch noch Eigentherapie sei, erklärt sie.
Wildberger möchte zum Nachdenken anregen und behinderte Menschen dazu befähigen, mutiger zu sein und sich nicht zu verstecken. Sie sei dabei, sich als Inklusions-, Resilienz- und Vielfaltsexpertin zu positionieren, sagt Brigitte Wildberger. Und: Es wird nicht ihre letzte Rede gewesen sein, sie habe daran einfach Freude gefunden.