Verein "Brücke"

Wie ein junger Mann sein Leben wieder in den Griff bekam

Ludwig wurde von seiner Mutter vernachlässigt, kriminell und saß im Gefängnis - Richter, Freundin, Sozialarbeiter und Schäferhunde halfen

02.01.2019 UPDATE: 06.01.2019 06:00 Uhr 5 Minuten, 10 Sekunden
Einmal legte Ludwig mit seinem Skateboard 300 Kilometer auf dem Standstreifen einer Autobahn zurück. Auf der Suche nach seiner Mutter.

Von Frauke Gans

Es gibt Fehlstarts ins Leben, da möchte man sofort auf Reset drücken. Wäre Ludwig damals in der Lage gewesen, hätte er vermutlich sofort lauthals gegen seinen Einstieg protestiert. So aber lag er als Baby in seinen eigenen Exkrementen in einem kleinen Zimmer, eingesperrt mitsamt seinen drei Geschwistern. "Meine Mutter wollte uns verhungern lassen. Aber meine Tante brachte uns heimlich etwas zu essen.

Obwohl sie Angst haben musste, von ihrer Schwester erstochen zu werden." Er sei bereits so ausgehungert gewesen, dass seine Tante Angst gehabt habe, ihn anzufassen. Sie erinnert sich noch gut, während Ludwig natürlich nichts mehr davon weiß. Zum Glück wurde man auf die Kinder aufmerksam und die Polizei befreite die vier aus ihrem Gefängnis.

Als man Ludwig mit 18 den Zeitungsausschnitt zu seiner Befreiung vorlegte, wollte er ihn nicht lesen. Verhungert war er zwar nicht. Aber die Folgejahre verliefen auch nicht ideal. Obwohl er die ersten fünf mit den Geschwistern in einem Kinderheim eigentlich als angenehm in Erinnerung hat. "Es war schön dort." Dann trennte man ihn von seinem Bruder und seinen Schwestern, um ihn in einem anderen Heim unterzubringen. Warum? "Ich hatte mich auffällig verhalten." Man dachte, ihm die Gesellschaft der Geschwister zu nehmen, würde helfen. Ludwig sagt: "Ich war plötzlich allein!"

Stattdessen lernte er als Jüngster in seiner neuen Umgebung von den älteren Mitbewohnern - wie man klaut und sich alles holt, was man möchte. Auch ohne zu fragen. Auf der Suche nach der Erfüllung seiner Grundbedürfnisse als Kind unternahm er etliche Fluchtversuche. Daraufhin wurde er herum gereicht. Insgesamt 60 Kinderheime. "Manchmal blieb ich nur für ein paar Stunden, weil ich immer wieder floh."

Einmal legte er mit seinem Skateboard 300 Kilometer auf dem Standstreifen einer Autobahn zurück. Wohin? "Meine Mutter finden in ihrem Heimatort." Ein Junge auf der verzweifelten Suche einem minimalen Quäntchen Geborgenheit. Das er bei einer Mutter finden wollte, die ihn gefährlich vernachlässigt hatte. Mit ungefähr neun Jahren hielt man ihn in Heimen für untragbar. Aggressionen und fehlende soziale Kompetenz: Niemand schien ihm helfen zu können. Die Folge in den ersten Teenagerjahren: Drogen, Dealen und Diebstähle.

Zum Glück dieser Kinder gibt es Einrichtungen, die wissen, was schief läuft und was diese Jugendlichen brauchen. Mit 14 endlich schickte man Ludwig zu einer "pädagogischen Maßnahme" nach Schweden. Alleine mit einem weiteren Mann wohnte er weit draußen in der Natur in einem Blockhaus. "Ich lernte Fischen und Jagen, Brennholz hacken, und im Einklang mit der Natur zu leben. Wir erlegten nur, was wir wirklich aßen. Wollte ich Geld, musste ich dafür arbeiten", erzählt Ludwig. "Ich lernte, wenn ich all meine Energie, die ich für Straftaten aufwand, in etwas Gutes stecke, kommt dabei auch etwas Gutes heraus." Seit seinem fünften Lebensjahr ein erstes Stückchen positive Erfahrung. Er war bereit für einen Neustart.

Zurück in Deutschland steckte man ihn in eine eigene Wohnung. Obwohl man selbst stabilen Jugendlichen nur bedingt zutrauen würde, alleine zu leben. Ludwig musste sie selbst streichen und Möbel kaufen. Er war zufrieden. Ein Betreuer schaute einmal die Woche vorbei und Ludwig begann ein Praktikum.

Doch das Jahr in Schweden mit sozialem Training reichte nicht für die Selbstständigkeit. Genügte nicht, die alten Muster zu durchbrechen. Ludwig traf sich wieder mit falschen Freunden. Diebstahl, Dealen: "Es war schnelleres Geld. Obwohl mir später wieder auffiel, dass ziemlich viel Arbeit dahinter steckt, die ich in etwas Gescheites hätte investieren können." Aber es war niemand da, der ihm das gesagt hätte.

Es folgten die ersten Mädchen: "Allerdings war ich nicht in der Lage Nähe zuzulassen. Es ging nur um Sex. Am nächsten Morgen mussten sie gehen." Damals war ihm nur nicht klar, warum er so empfand. "Ich dachte, ich sei der Chef und so habe ich mich aufgeführt. Ich war auch beim Zulangen, also im Gewaltverhalten, nicht kleinlich." Und schließlich sammelten sich viele Gefängnisaufenthalte: "Insgesamt elf einhalb Jahre."

Das Verrückte: Derweil hatte er die Schäferhundezucht seines Großvaters übernommen und trainierte sie für die Polizeihundestaffel. "Polizist wäre ich gerne geworden. Ich hatte das mal angesprochen, aber mir wurde gesagt, mein Vorstrafenregister sei einfach zu groß." Also auch hier keine Chance.

Bis er wieder ins Gefängnis kam und der letzte Aufenthalt die Kehrtwende einläutete: "Ich ging hinein und kannte alle. Es waren immer die Gleichen da. Es war wie ein trauriges Klassentreffen." Und da stellte er sich die Frage: War das alles? Ist das mein Leben? Es muss doch mehr geben? "Zwar hatte es mir niemand vorgelebt, aber ich wusste ja, dass es auch anders geht. Ich sah es doch in den Medien."

Und dann traf er wieder ein Mädchen. Und etwas war anders. "Sie war einfach super." Daraufhin brachen sie zusammen die Zelte in der alten Umgebung ab und flohen nach Aschaffenburg. "Weg vom schlechten Einfluss alter Seilschaften. Wir tauchten richtig unter. Das war aber problematisch, denn es war noch ein Haftbefehl draußen." Aber zum Glück gab es auch hier einen Mann, wie jenen in Schweden. Seinen Richter. "Er kannte mich ja nun schon lange. Anstatt rigoros gegen mich vorzugehen, fragte er mich, was los sei. Ich sagte ihm, ich müsse mich sammeln, und er gab mir meine Chance. Komm reden, meinte er nur."

Und der Richter erkannte die Gelegenheit: Ludwig solle seine Schulden bezahlen und zeigen, dass er sich ändert. "Da war sie, meine Chance. Ich begann alles abzuzahlen und ich musste mich einmal die Woche bei der Polizei melden." Ab da hatte er sich im Griff. Er meldete sich offiziell, lernte, seine Aggressionen zu beherrschen, begann eine Therapie und es ging bergauf.

Und dann traf er Benno vom Verein "Brücke". Die Organisation ist eine Einrichtung, wie in Schweden, die sich um Menschen wie Ludwig kümmert, die durch das Geborgenheitsnetz einfach hindurch gefallen sind. Denn wem nichts Positives vorgelebt wurde, der braucht jemanden, der ihn bei der Hand nimmt. Der Leitsatz des Vereins: "Für Zukunft ist es nie zu spät."

Ludwig erzählt: "Benno half mir, unsere Wohnung auszubauen. Er hat mir in allem geholfen. Er hat mir auch immer wieder gesagt, ich sei ein topp Junge." Eine völlig neue Erfahrung. "Außerdem hat er nie gefordert: Ich muss jetzt. Er hat nur gesagt: Schau, die Möglichkeiten gibt es." Und Benno war beeindruckt von Ludwigs Zielstrebigkeit: "Er wollte selbst entscheiden, wie es in seinem Leben weiter geht und brauchte nur jemanden, der ihn dabei unterstützt."

Die Organisation gab Ludwig einen Job, hier fand er Freunde mit stabilem Lebenslauf. Als er selbst gefestigt war, begann der junge Mann auf dem Bau zu arbeiten. "Ich würde gerne eine Ausbildung machen, aber da ich einen festen Job habe, zahlt man mir das nicht. Und ohne Geld geht es ja nicht." Aber Ludwig beklagt sich nicht: "Ich muss die Konsequenzen tragen, für alles bezahlen was ich verbockt habe. So ist das."

Auch auf der Arbeit macht er keinen Hehl aus seiner Vergangenheit. "Mein Chef war erstaunt, aber heute sagt er nur: Der Junge kann richtig arbeiten." Selbst seine Mutter besucht Ludwig in einem Heim regelmäßig. "Sie sagte zwar bloß: ’Wo kommst du denn her?’ Aber was soll’s. Ich möchte nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Ich möchte nicht sein wie sie."

Zuspruch, Stabilität und Verständnis: Ein Mann in einer Blockhütte, eine Frau, ein Richter, Benno, der Verein "Brücke" und ein Rudel Schäferhunde: Ludwig hat trotz seines brutalen Lebensbeginns aus jeder positiven Situation ausreichend soziale Kompetenz gezogen, um sie wie ein Puzzle zu einem funktionierenden Leben zusammenzusetzen.

Heute ist er ein Vater, wie er selbst nie einen gehabt hatte. "Mit meinem Sohn zusammen gehe ich auch immer wieder zur Organisation Brücke und wir verbringen dort Zeit." Wie eine Familie. Soziale Strukturen für Menschen, die von Haus aus keine mitbekommen haben. Ludwig, sein Sohn und dessen Mutter leben in einem Haus, aber in getrennten Wohnungen. Die größtmögliche Nähe für Menschen, die selbst keine bekommen haben. Und die sich aus widrigsten Umständen ein Leben aufgebaut haben. "Es hat schlimm begonnen. Aber aus mir ist trotzdem etwas geworden."

Sein Traum jetzt mit knapp 40? Er möchte Streetworker werden. Anderen Kindern helfen, die wie er niemanden haben und auf die einzelnen klugen Menschen angewiesen sind, die sie bei der Hand nehmen.