Als Sigmund Freud Rom besuchte
Sigmund Freud liebte Italien. Vor allem Rom hatte es ihm angetan.Vor 100 Jahren besuchte der berühmte Psychoanalytiker diesen Sehnsuchtsort ein letztes Mal.

Die Spanische Treppe besichtigte der berühmte Psychoanalytiker „angeschwitzt“. Foto: Getty
Von Welf Grombacher
Rom. Auf Italienreisen ging Sigmund Freud am liebsten ohne Ehefrau Martha. Die bekam beim reichhaltigen Bildungsprogramm seiner "Ruinenausflüge", wie er sie selbst zu nennen pflegte, schon mal Migräne oder ihre Menstruationsbeschwerden. Jede Nacht in einem anderen Bett zu übernachten, war ihre Sache nicht. Freud selbst störte das gar nicht. Er kostete die neu gewonnene Freiheit gerne aus und kommentierte sie beiläufig mit dem herrlichen Satz: "Eine Frau fügt sich so schwer in die allgemeine Zeitrechnung."
Nahezu zwanzig Mal besuchte der Psychoanalytiker Italien. "So viel an Farbenglanz, Wohlgerüchen, Aussichten – und Wohlbefinden habe ich noch nicht beisammengehabt", schwelgt er und es fehlen ihm förmlich die Worte: "Vom Land kann man nicht reden, ohne ein Dichter zu sein." Vor allem Rom hatte es Freud angetan. Vor 100 Jahren besuchte er die ewige Stadt ein letztes Mal.

Das Leben in Wien, wo er mitunter zehn Stunden am Tag arbeitete, kam ihm im Vergleich zu Italien vor wie eine "nordische Verbannung". Im mediterranen Süden dagegen erholte er sich, empfand ein "Behagen an der Faulheit": "Intellektueller Stillstand, Sommeröde, vegetatives Wohlbefinden", schreibt er nach Hause. "Meine Schreibunlust ist in solchen Zeiten geradezu pathologisch."
Akribisch bereitete sich Freud auf seine Reisen vor, wie Jörg-Dieter Kogel in seinem Buch "Im Land der Träume" über die Italiensehnsucht Sigmund Freuds schreibt. Eine Lektüre, die jedem Italienliebhaber ebenso empfohlen sei wie denjenigen, die sich für den Vater der Psychoanalyse interessieren. Mehr als 30 Monografien allein über Rom finden sich in Sigmund Freuds Hausbibliothek und als Sammler von antiken Kunstgegenständen begrüßten ihn die einschlägigen Händler in der ewigen Stadt auf der Straße schon mit seinem Namen.
Zu einem echten Kenner des "Landes, in dem die Zitronen blühen", entwickelte er sich durch seine vielen Reisen über die Jahre. In Sorrent schwärmte er: "Endlich. Hier ist das Schlaraffenland." Die Blaue Grotte auf Capri fand er "merkwürdig blau". San Gimignano sah er als "meschugge auf Berg gelegene Stadt mit 13 Türmen". In Florenz holte er sich "Schrottfüße", weil er eine Woche lang durch alle Museen lief. In Tivoli ließ er "übermangansauren" Wein zurückgehen. Bologna, dieses "elende Nest", trank er sich schön. Pisa nannte er eine "tote, wüste Stadt" und Neapel einen "Affenkäfig". Betrübt vermerkte er in seinem Notizbuch: "Erste Enttäuschung. Vesuv raucht nicht."
Aus Venedig dagegen schrieb er begeistert nach Hause: "Komisches Märchen, ganz verwirrt." Selbst der vor kurzem erfolgte Einsturz des Markusturms störte ihn nicht weiter. Im Gegenteil. Im Fallen des phallusartigen Turmes erkannte er sogar eine poetische Qualität: "Die Kirche ist schöner denn je, wie eine junge Witwe nach dem Tod des Herrn Gemahl." Der Gipfel des Glücks aber war für den Psychoanalytiker Rom. "Ein Höhepunkt des Lebens", schwärmte Sigmund Freud als er 1901 zum ersten Mal die ewige Stadt besuchte.
An seinem ersten Abend warf er eine Münze in den Trevi-Brunnen, um sich ein Wiedersehen zu sichern. Bis ins Jahr 1923 besuchte er die Metropole weitere sechs Mal. Insgesamt 57 Tage war er dort und bewegte sich schon wie ein "Eingeborener" in der Hauptstadt. Er bewunderte die Villa Borghese, das Pantheon und das Forum Romanum. Nicht zu vergessen die Römerinnen, die "auch schön sind, wenn sie hässlich sind". Lediglich die "zur Abschreckung auf Reisen geschickten Engländerinnen" gingen dem Nervenarzt auf die Nerven.

Spät erst in seinem Leben stellte er sich der Stadt Rom, weil er sie für ein Zentrum des Antisemitismus hielt. In der Kirche San Pietro in Vincoli ließ er sich zu seinem Aufsatz "Der Moses des Michelangelo" (1913/14) inspirieren. Kurz nach seiner Krebsdiagnose 1923 kommt er zum letzten Mal in die Stadt. Ein Karzinom im Kiefer attestieren die Ärzte dem bekennenden Nikotinsüchtigen. Tochter Anna begleitet ihn deswegen. Es ist so etwas wie eine Abschiedsreise. "Dass man Freud erlaubte, noch einmal Rom zu sehen und Anna die Stadt zu zeigen, war die humanste und konstruktivste Handlung in all den Monaten", schreibt Max Schur, der als Student die Vorlesungen Sigmund Freuds hörte und später dessen Leibarzt wurde.
Nachdem er sich mit einer Kur im österreichischen Bad Gastein fit für die anstrengende Reise gemacht hat, geht es am 1. September 1923 los in Richtung Italien. Mit dem Nachtexpress fahren Vater und Tochter über Verona ihrem Ziel entgegen. Eine heftige Mundblutung im Speisewagen gefährdet das Vorhaben für kurze Momente. Dann aber können sie ihre Fahrt fortsetzen.
Im "Hotel Eden" in der Via Ludovisi 49 steigen die beiden ab. Das Gepäck verspätet sich und kommt ärgerlicherweise erst einen Tag später an. Also müssen sie nach den Strapazen der langen Zugfahrt die Spanische Treppe "angeschwitzt" besichtigen. "Alles unverändert schön", schreibt Freud dennoch euphorisch nach Hause.
Nicht mal, dass eine amerikanische Zeitung schon seinen Tod verkündet, kann ihn in diesen Tagen aus dem Schwelgen bringen. Er nimmt die Falschmeldung mit Humor. "In einer zugeschickten Zeitung aus Chicago lese ich, dass ich slowly dying bin, nicht mehr arbeite, und dass alle meine Schüler zu meinem spiritual son Dr. Otto Rank gehen."
Freud führt seine Tochter in die Schönheiten der ewigen Stadt ein und freut sich, dass sie ihr genauso gefallen wie ihm einst. Drei Wochen lang laufen sich die beiden bei ihren Besichtigungstouren die Füße wund. Jeder Tag ist penibel durchgeplant. Ein Mammutprogramm. Von tief drunten in den Katakomben geht es hoch auf den Gianicolo und den Pincio. Noch einmal sucht Freud die Plätze auf, die er schon gesehen hat, und stellt fest, dass eigentlich alles gleichgeblieben, Rom nur "theuer und geräuschvoller" geworden ist, seit seinem letzten Besuch 1913.
Immerhin plant er, um Tochter Anna bei Laune zu halten, auch die nötige Zeit fürs Shoppen ein. Museen, Paläste und Kathedralen stehen auf der Tagesordnung. Die Sixtinische Kapelle mit den Stanzen des Raffael besuchen sie gleich mehrmals. Es ist ein Traum. Was der schwerkranke Arzt und Psychologe wohl beim Besuch des Cimitero Acattolico gedacht haben mag, auf dem Protestanten neben Juden und Atheisten ruhen, weil es Bürgern und Reisenden anderer Konfessionen lange nicht erlaubt war, auf einem katholischen Friedhof beerdigt zu werden? Mag er seinem eigenen Ableben ins Antlitz geschaut haben? Sich vielleicht sogar eine Grabstelle ausgeguckt haben?
Vor der Abreise am 21. September gastieren Vater und Tochter noch einmal im damals angesagten Caffè Aragno, das "fast einzige, wirkliche großstädtische Lokal der Hauptstadt". Glückliche Tage finden ein gebührendes Ende. Sigmund Freud spielt gar mit dem Gedanken, sich im Alter kein Cottage zu kaufen, wie ursprünglich geplant, sondern nach Rom zu ziehen. Ob er ahnte, dass er letztlich doch länger leben würde, als seine Krankheit befürchten ließ?
Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 erübrigt sich diese Gedankenspielerei ohnehin. Vor den Nazis flieht der Doktor nach London, wo er die Britinnen jetzt jeden Tag ertragen muss. Im Jahr darauf stirbt er an den Folgen seiner Krebserkrankung im stolzen Alter von 83 Jahren im Londoner Exil "in Freiheit". Italien ist für ihn ein Lebenstraum geblieben.