RNZ-Interview

Autorin Brenda Strohmaier wanderte nach Frankreich aus

Aufregen funktioniert in Marseille nicht. Regt man sich einmal auf, nimmt das kein Ende mehr.

12.08.2022 UPDATE: 14.08.2022 06:00 Uhr 6 Minuten, 41 Sekunden
Ein Blick auf Marseille. Foto: dpa
Interview
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Brenda Strohmaier
Die Autorin wanderte nach Frankreich aus

Von Jan Draeger

Marseille. Sie verliert ihren Mann, kündigt daraufhin ihren Job und wandert nach Frankreich aus. So lässt sich das Leben von Brenda Strohmaier in wenigen Worten zusammenfassen. Wie kommt man aber als Deutsche in der südfranzösischen Hafenstadt Marseille zurecht? Davon erzählt sie in ihrer überraschend heiteren Sommerlektüre: "Blick aufs Meer, Arsch auf Grundeis". Mit unserem Autor Jan Draeger spricht sie über die Unterschiede zweier Nachbarländer, über deutsche Ungeduld und französische Leichtigkeit, und darüber, warum die einen besser smalltalken können als die anderen.

Frau Strohmaier, sind Sie mutig?

Ich habe immer drei Mal nachgedacht, bevor ich was entschieden habe. Also bin ich einerseits sehr vorsichtig, aber andererseits springe ich im richtigen Augenblick.

Kurz vor Ihrem 50. Geburtstag sind Sie nach Frankreich ausgewandert. Wie viel Mut brauchte es dafür?

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Gar nicht so viel in dem Moment. Ich hatte ja ein gutes finanzielles Polster. Aber ich bin auch ein Sonntagskind, das denkt, dass es schon das notwendige Glück haben wird.

2016 ist Ihr Mann Volker gestorben. Mit Mitte 40 waren Sie plötzlich Witwe. Sie haben dann Ihren Job gekündigt. Wollten Sie in Marseille einen Neuanfang wagen?

Das hat schon eine Rolle gespielt. Aber vor allem war es die Erfahrung, dass das Leben so kurz sein kann.

Hintergrund

BIOGRAFIE

Name: Brenda Strohmaier

Geboren im Juli 1971 in München

Werdegang: Nach ihrem Abitur am Gymnasium am Stadtgarten in Saarlouis studiert sie von 1990 an Publizistik, Volkswirtschaft und Politik an der Freien Universität Berlin

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BIOGRAFIE

Name: Brenda Strohmaier

Geboren im Juli 1971 in München

Werdegang: Nach ihrem Abitur am Gymnasium am Stadtgarten in Saarlouis studiert sie von 1990 an Publizistik, Volkswirtschaft und Politik an der Freien Universität Berlin und der University of Sussex. Als freie Mitarbeiterin beginnt sie ihre journalistische Karriere beim Radio. Bei der "Berliner Zeitung" macht sie ein Volontariat. Danach arbeitet sie für "Spiegel Online" und "Welt online" und wird schließlich Redakteurin im "Stil"-Ressort der "Welt am Sonntag". Nebenbei promoviert sie in Stadtsoziologie an der Technischen Universität Darmstadt.

Bücher: Nach dem Tod ihres Mannes schreibt sie ein Buch über ihr Leben als Witwe. "Nur über seine Leiche" wird 2019 ein Bestseller. Ihr neues Buch trägt den Titel: "Blick aufs Meer, Arsch auf Grundeis: Wie ich meinen Job kündigte, nach Südfrankreich zog und das Fürchten verlernte" (Penguin Verlag, 254 Seiten, 14 Euro).

Privat: Brenda Strohmaier verbringt so viel Zeit wie es geht in Marseille, muss aber zwischendurch immer wieder beruflich und privat nach Berlin.

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Woran ist Ihr Mann gestorben?

An einer seltenen Krankheit. Sie heißt Primär sklerosierende Cholangitis und führte dazu, dass seine Gallengänge derart verhärtet waren, dass sich die Galle rückstaute und die Leber zerstörte.

Warum haben Sie sich gerade Marseille als neuen Lebensmittelpunkt ausgesucht?

Zufall! Ich hatte einen alten Kumpel getroffen. Wir sind beide im Saarland, also an der französischen Grenze, zur Schule gegangen. Er meinte, dass er überlege, als Rentner nach Marseille zu ziehen. Der Gedanke hat mir gefallen. Ich habe mir daraufhin Marseille angeguckt und bin gleich hängen geblieben.

Waren Sie früher schon in Marseille?

Nein, das war das erste Mal – und sofortige Liebe! Für mich war es ein bisschen so wie Berlin in den Neunzigern. Eine Stadt, wo ganz viel möglich scheint, wo sich noch viel bewegt, wo jeder noch mit jedem redet – das gibt es jetzt nicht mehr in Berlin. Marseille ist auch viel langsamer als Berlin. Meinen ersten Marseille-Moment hatte ich, als ich aus dem Bahnhof kam. Der liegt erhöht, und man kann von dort die ganze Stadt überblicken. Was mir gefiel: Du bist nicht nur am Meer, sondern es gibt auch Berge, wo man wandern kann.

Ist der Start in Ihr neues Leben geglückt?

Ich würde eine gemischte Bilanz ziehen. Was mir nicht geglückt ist: eine gute ökonomische Grundlage zu finden, mit der ich am Stück lange in Marseille bleiben kann. Mein Traum ist es, zwei Monate im Jahr in Berlin und zehn Monate in Marseille zu verbringen. Das habe ich noch nicht geschafft. Aber was ich geschafft habe und was vielleicht mehr Wert ist: Ich habe ganz tolle Freunde in Marseille gefunden und ganz viele neue Sachen erlebt und erfahren. In Berlin bin ich 14 Jahre lang bei demselben Arbeitgeber gewesen und hatte das Gefühl, dass das Leben schnell vorbeizieht. 14 Jahre Arbeit fühlten sich wie drei an. Und jetzt diese drei Jahre Marseille – da habe ich das Gefühl, die dauern schon ewig.

Was hatten Sie im Vorfeld von Marseille erwartet?

Mehr Leichtigkeit. Ein bisschen weniger Angst, ein bisschen weniger Deutschsein.

Was heißt "Deutschsein"?

Dieses Schmallippige. Es gibt so eine deutsche Gefühlskälte. Wenn ich in Deutschland erzähle, dass ich Witwe bin, sagen nur wenige: "Herzliches Beileid". In Frankreich dagegen sagt man das ganz selbstverständlich. Ich empfinde das Leben dort als herzenswärmer.

Das Buch, das Sie über Ihr Leben in Marseille geschrieben haben, trägt den Titel: "Blick aufs Meer, Arsch auf Grundeis". Das klingt nicht nach einem angenehmen Aufenthalt …

Ich bin im Winter dort hingezogen. In meiner Wohnung unterm Dach fror ich bei zehn Grad, und der Speicher war damals noch nicht isoliert. Da konnte ich meine zwei Zimmer nur mit furchtbar viel Geld und Atomstrom beheizen.

Sie haben schon erlebt, was uns vielleicht diesen Winter droht …

Ja, frieren kann ich jetzt. Aber mir hat eine Heizdecke sehr geholfen. Die habe ich so wie Linus von den Peanuts immer hinter mir hergezogen. Sie wurde meine beste Freundin.

Sie haben 178.000 Euro für Ihre 70-Quadratmeter-Wohnung bezahlt. Mit dem Geld von der Lebensversicherung Ihres verstorbenen Mannes, schreiben Sie. Und: Er selbst habe allerdings nicht viel für Frankreich übrig gehabt. Warum?

Ich habe die Wohnung immer noch nicht ganz abbezahlt. Aber egal. Mein Mann war Filmkritiker, und er mochte die Filmfestspiele von Cannes nicht. Wegen des Kastensystems, das dort unter den Journalisten herrschte. Er hatte eine Akkreditierung, mit der er sich wie der letzte Dreck behandelt fühlte. Aber Cannes ist etwas anderes, es hat überhaupt nichts mit Marseille zu tun. Ich habe in Cannes in einer Minute mehr Designerklamotten gesehen als in Marseille in drei Jahren.

Einen großen Platz in Ihrem Buch nimmt Ihre Suche nach Handwerkern ein, die Ihre Wohnung renovieren sollen …

Marseiller Bekannte haben mich vor den Handwerkern gewarnt: Die nehmen eine horrende Anzahlung, kommen einen Tag und dann nicht mehr. Ich habe ein richtiges Handwerker-Casting gemacht. Auf der Anrufliste meines Handys sah es aus, als hätte ich wochenlang getindert – so viele Typen hatte ich auf der Liste.

Sie wollten in Frankreich auch selbst arbeiten und haben sich mehrfach auf Jobs beworben. Woran scheiterte es?

Die meisten, bei denen ich mich beworben hatte, haben gar nicht geantwortet. Ich vermute, dass sie auf meinen Lebenslauf guckten und – egal, wie großartig der in Deutschland klingt – für die Franzosen bin ich eine durchgeknallte 50-Jährige, die auf ihren Arbeitsmarkt will. Aber wenn ich mich jetzt noch mal bewerben würde, hätte ich bestimmt in der Gastronomie Chancen.

Aber dort werden kaum Trinkgelder gezahlt, schreiben Sie …

Ja, Trinkgeld ist eher die Ausnahme als die Regel! Und dazu gibt es noch einen grottigen Lohn. Würde ich in Berlin in einer Bar arbeiten, bekäme ich doppelt so viel Geld wie in Marseille.

Und womit verdienen Sie jetzt Ihr Geld in Marseille?

In Frankreich will ich tendenziell journalistisch für den deutschen Markt arbeiten. Ich denke auch über ein weiteres Buchprojekt nach. Einmal im Monat komme ich nach Berlin und moderiere dort eine Veranstaltung, die "It’s complicated" heißt. Mit Hilfe von Experten machen wir Beziehungsberatung für jedermann, quasi Paartherapie für alle.

Wird Ihr Buch auch in Frankreich erscheinen?

Ich hoffe es. Aber die Franzosen haben in der Regel wenig Interesse, etwas von Ausländern über sich selbst zu lesen. Die Deutschen dagegen wollen eher wissen, was andere über sie denken. Mein Buch müsste schon ein Megabestseller werden, damit es hier erscheint. So wie "A year in the Merde" von dem englischen Autor Stephen Clarke. Er hat beobachtet, dass die Franzosen einem immer alles Gute zu allem Möglichen wünschen: Bon après-midi, bon courage. Er schreibt, selbst wenn man auf dem Schafott liegen würde, würden sie einem noch "bonne guillotine" wünschen.

Ihre Geburtstagsparty zum 50., vor rund einem Jahr, feierten Sie zusammen mit deutschen und französischen Freunden. Wie kamen die denn miteinander aus?

Meine Freunde in Marseille stammen ja nicht nur aus Frankreich – sie kommen auch aus Saudi-Arabien, Marokko, USA, Australien, Singapur. Alle sind sehr weltoffen und haben sich toll verstanden. Ich finde, dass die Franzosen besser in Small-Talk sind. Man ist mehr darauf bedacht, dass jeder an dem Tisch integriert wird, dass jeder was zu sagen und jeder einen Gesprächspartner hat.

Sie haben festgestellt, dass die Franzosen die Deutschen bewundern. Wie äußert sich das?

Die Franzosen glauben, dass wir ein funktionstüchtiges Volk sind. Dass wir beispielsweise Häuser in Schuss halten können. Oft wissen sie nichts von unseren Problemen, beispielsweise mit dem Berliner Flughafen BER …

Die Einwohner von Marseille kürzen ihre Stadt gerne Mars ab – gab es Situationen, in denen Sie sich wie auf einem fremden Planeten fühlten?

An der Supermarktkasse krame ich ja mittlerweile wie eine alte Dame in meinem Geldbeutel herum, weil ich nicht mehr so gut sehe. In Deutschland fühle ich mich dann immer unter Druck, dass ich mich beeilen muss. Wenn ich in Frankreich hinter mich schaue, merke ich, dass das keinen interessiert. Ich darf mir Zeit lassen! Aber ob ich mich wie auf einem fremden Planeten fühle? Nein! Ich genieße eher die schönen Situationen. Es gibt ein Restaurant bei der Kirche Notre-Dame de la Garde, hoch über dem Meer, da sitze ich und gucke in den Sonnenuntergang. Das ist eine außerweltliche Erfahrung, so kitschig das klingen mag, das ist wirklich entrückend.

Marseille bietet den Plage des Catalans, einen Strand mitten in der Stadt – wie ist das Gefühl dort zu liegen?

Es gibt mehrere Strände. Aber das ist der, der für mich am nächsten liegt. Ich finde ihn grandios. Es gibt einen Concierge-Service, bei dem man umsonst seine Sachen abgeben darf. Man kann schwimmen gehen, ohne zu fürchten, dass die berüchtigten Marseiller Kleinkriminellen sie mitnehmen. Am Strand liege ich dann mit allen Schichten dieser Stadt zusammen. Von 80-jährigen Frauen, die sich oben ohne sonnen, bis zu muslimischen Frauen, die nur angezogen schwimmen gehen.

Wie weit ist der Strand von Ihnen entfernt?

Mit dem Fahrrad sind es 20 Minuten.

Ist Fahrrad fahren in Marseille so populär wie bei uns?

Noch nicht. In Marseille hält man Fahrradfahrer für den Abschaum der Straße. Autofahrer hupen sie gerne weg. Aber ich lebe noch.

2015 haben Sie in Stadtsoziologie promoviert – Ihr Thema: "Wie man lernt, Berliner zu sein" Wie haben Sie gelernt, Marseillerin zu werden?

Ich habe einen französischen Stadtsoziologen interviewt. Er behauptet, dass man in Marseille gleich dazugehört. Das stimmt. Diese Stadt nimmt einen sofort auf. Ich habe auch gelernt, ein bisschen langsamer zu werden. Ungeduld geht dort schnell weg. Diesen alten Reflex merke ich nur, wenn ich Besuch aus Deutschland bekomme, und der sich dann über das Moped, das über das Trottoir brettert, aufregt. Aber aufregen funktioniert in dieser Stadt nicht. Regst du dich einmal auf, nimmt das kein Ende mehr.

Marseille ist ja eine laute Stadt …

Das geht schon morgens los. Wenn man bei offenem Fenster schläft, machen einen die fiesen Lachmöwen wach. Dann hörst du schon die ersten Motorräder und Mopeds. Ich wohne neben einem großen Krankenhaus, da knattert auch noch der Rettungshubschrauber. Und nachts kommt irgendwann das Müllauto.

Der Deutsche sagt: "Die Hoffnung stirbt zuletzt." Der Franzose sagt: "L’espoir fait vivre – die Hoffnung lässt einen leben." Was ist Ihnen sympathischer?

Die beiden Sätze bringen es gut auf den Punkt, was der Unterschied zwischen hüben und drüben ist. Der französische Satz ist mir sympathischer. Er ist voller Optimismus – und viel charmanter.

Hat Marseille Sie verändert?

Auf den Fotos in Frankreich sehe ich glücklicher aus als auf denen in Deutschland – und ein bisschen französischer.