Mannheim

Ein Chor zum Brüllen und Sau-Rauslassen (plus Audio/Fotogalerie)

Gesanglicher Striptease: In der Neckarstadt-West treffen sich Menschen zum Singen, die nicht singen können. Ein Probenbesuch.

12.11.2023 UPDATE: 12.11.2023 06:00 Uhr 3 Minuten, 56 Sekunden
Schön schräg: In dieser Hütte am Alten Meßplatz Mannheim sind schiefe Töne die Regel. Julia Alicka (r.) und ihre Chorfreunde treffen sich jeden Freitag zum schambefreiten Singen. Foto: vaf

Von Daniel Schottmüller

Mannheim. BÄM! BÄM! BÄM! Axels rote Trainingsschuhe donnern gegen den Dielenboden. Fast meint man, das Holz unter seinem Yamaha-Keyboard ächzen zu hören. Aber akustische Feinheiten kann man sich an diesem Freitagabend getrost abschminken. Zu laut tosen Schlagzeug, E-Gitarre und Keyboard im wilden Zusammenspiel mit den 20 Frauen und Männern, die hier wieder und wieder den gleichen Refrain singen: "Ich, ich folge – ich folge dir tief, tief, Baby …"

Zwei der Sänger sind immerhin umsichtig genug, das Keyboard festzuhalten. Zum Glück. Denn Axel hat sich genug hinter seinem Instrument gewunden: Der Mann im Klaus-Kinski-Shirt braucht Platz. Mit geschlossenen Augen spritzt er auf, feuert seinen Keyboarder-Hocker in die Ecke und wirft sich in die Raummitte. Pogo!

Bei jeder anderen Chorprobe würden die Teilnehmer spätestens jetzt hinter ihren Notenständern in Deckung gehen oder angsterfüllt aus dem Saal flüchten. Aber diese Sangesbrüder und -schwestern lassen sich gerne von ihrem Tastenmann anrempeln. Als der letzte verzerrte Gitarren-Akkord ihrer Punk-Version von Lykke Lis "I Follow Rivers" ausklingt, steht allen ein Strahlen im Gesicht. "Applaus für Axel!" Der lässt sich abklatschen und hebt schnaufend wieder seinen Hocker auf. Ganz normaler Probenwahnsinn beim "Chor für Menschen, die nicht singen können".

 

Seit Juni 2022 treffen sich die Mitglieder in der Mannheimer Neckarstadt-West zum Singen, Brüllen, Die-Säue-Rauslassen. Auf musikalische Vorkenntnisse oder Mitgliedsbeiträge pfeift die generationenübergreifende Gruppe: Den Eintritt in ihre Proben-Hütte halten sie bewusst niederschwellig. Frei nach dem Joseph-Beuys-Credo "Jeder Mensch ist ein Künstler" sind alle willkommen, die sich nicht an schrägen Tönen stören.

Auch interessant
Reggae-Künstler Patrice: "Gerade leben wir alle in Bubbles, die permanent aufeinanderprallen"
"Ihr liewe Leit": Gringo Mayer startet mit neuem Album durch
SAP-Arena Mannheim: Eros Ramazzotti ist ein verspielter Unterhalter (plus Fotogalerie)

Und mit seinem Filzhut hätte sich Beuys bestens in das Trüppchen eingefügt. Die Heidelberger Studentin mit Kurzhaarfrisur singt hier Seite an Seite mit dem mittelalten Mannheimer im Piratenkopftuch, während der junge Mann mit Hipster-Schnauzer seinen Text per Handy mit dem französisch brabbelnden Punk teilt. Über ihnen allen schwebt an diesem Novemberabend süßer Glühweinduft.

Dass sich die Probe nicht im Chaos verliert, ist Julia Alicka zu verdanken. Die junge Frau mit den rotbraunen Haaren gibt in der grün gestrichenen Hütte im wahrsten Sinne des Wortes den Ton an. Die Idee zu ihrem kuriosen Projekt kam der Chorleiterin im vergangenen Jahr. Im Rahmen des Mannheimer Freizeit- und Kulturprojekts "Alter" habe es eine Reihe von Musik-Workshops gegeben.

Und als ehemaliges Mitglied des experimentellen Indierock-Trios The Alicka Problem wollte auch Julia ein Kursangebot machen. Blöd nur: "Ich kann eigentlich nichts so richtig – weder singen noch ein Instrument", meint sie mit einem Augenzwinkern. "Also dachte ich mir: Dann biete ich eben etwas für Leute an, die genauso wenig können wie ich."

Eine allzu bescheidene Selbsteinschätzung. Das wird spätestens deutlich, als sich Julia ihren E-Bass umschnallt und zusammen mit Gitarrist Johannes "Jojo" Burkhart zum Ton-Steine-Scherben-Song "Der Traum ist aus" zu improvisieren beginnt. Nein, die beiden grooven alles andere als amateurhaft. Und auch die Art und Weise, wie sie ihre Schützlinge im Verlauf der zweistündigen Probe dirigieren, lässt Ehrgeiz erkennen.

Da fallen durchaus Begriffe wie "Metrik" oder "Kontenance". Und wenn der Schlagzeuger darum bittet, wird ihm mit einem liebevollen Blick der taktgenaue Einstieg in die nächste Strophe signalisiert. Gerade das Aufeinandertreffen erfahrener Musiker und semi- bis untalentierter Sängerinnen und Sänger scheint die Mischung auszumachen.

"Schon bei den ersten Proben waren um die 20 Leute da", erinnert sich Julia an die Resonanz auf ihren ursprünglichen Facebook-Aufruf. Hat man da direkt mit der gleichen Inbrunst geschmettert? Das sei dann doch ein Prozess gewesen, ist sich die Initiatorin mit Jojo einig. Geholfen hat, dass die beiden und ihre Mitstreiter politisch ähnlich ticken. "Wir konnten uns zum Beispiel schnell auf das Motto ,Keine Liebeslieder‘ einigen", erzählt Julia schmunzelnd.

Stattdessen findet sich viel Kraut- und Punkrock auf der Setlist. Egal, ob es sich dabei um Selbstgeschriebenes, Coversongs oder – wie im Fall von Axels eingedeutschtem "I Follow Rivers" – irgendwas dazwischen handelt: Der "Chor für Menschen, die nicht singen können" zeigt mit seinen Protestliedern klare Kante: gegen Rassismus, Gewalt, Gier und soziale Ungerechtigkeit.

Für Julia ist es auch beileibe kein Zufall, dass ihr Projekt ausgerechnet an diesem Ort Wurzeln geschlagen hat. "Die Neckarstadt ist von Gentrifizierung bedroht", betont sie. Aber nicht nur, wer sich Sorgen macht, wegen explodierender Mietpreise verdrängt zu werden, hat in Zeiten von Inflation, Krieg und Klimakrise Gründe, sich den Frust von der Seele zu singen.

Alexander Scholz nimmt dafür weite Wege auf sich. "Ich wohne in Offenbach und arbeite in Frankfurt", erzählt der Mann mit der Nickelbrille, der sich immer wieder bemüht, Ordnung in das anarchische Probendurcheinander zu bringen. Zum ersten Mal hat er den Chor bei einem Auftritt im Frühjahr erlebt: "Ich war so begeistert, dass ich mich spontan dazu gestellt und mitgesungen habe."

Überhaupt, egal, ob man die Szenebar "Blau" im Jungbusch auf den Kopf stellt oder den Abschluss der Schillertage gestaltet: Der Nichtkönner-Chor wird gerne gebucht. Bisheriger Höhepunkt war der Auftritt als Opener des Maifeld Derbys. Vor Hunderten Zuhörern sei man doch aufgeregt gewesen. Aber: "Wir haben uns Mut zugesprochen und angetrunken", verrät Jojo verschmitzt. Mit Erfolg: Man ist bereits eingeladen, nächstes Jahr wieder an gleicher Stelle zu rocken. Vorher steht aber noch ein weiteres Konzert an, auf das sich die Gruppe im Moment einstimmt.

Zu getragener Akustikgitarren-Begleitung singt der Chor zunächst beinahe dezent: "Des is brudal, wer soll des zahle? Alles Geld der Welt is verteilt uff zwee Prozent Subba-Reiche ..." Kennt man das nicht? "Ahjoo": Bei diesem Titel steht das Pfälzer Original Gringo Mayer Pate. Der Songwriter hat die Anti-Goldkehlchen eingeladen, zusammen mit ihm beim Jahresabschlusskonzert auf der Capitols-Bühne zu stehen. Eine stimmige Verbindung. Schließlich gelingt es auch Gringo, die unterschiedlichsten Menschen zur gemeinschaftlichen Eskalation zu bringen.

Dürfte einer wie er, der mit angenehmer Stimme problemfrei die Töne trifft, eigentlich beitreten? Klar, sagt die Chorleiterin. "Es geht uns ja nicht darum, ob jemand gut singen kann oder nicht. Entscheidend ist, dass man sich nackt macht!" Wie befreiend es sein kann, sich verletzlich zu zeigen und die eigenen Emotionen ohne Rücksicht auf Verluste auszudrücken, wird am Ende der Probe deutlich. So schnell nach Hause will noch keiner. Viel schöner ist es doch, den Abend bei einem letzten Becher Glühwein ausklingen zu lassen. Julia blickt strahlend in die Runde: "Von allen Sachen, die ich bis jetzt musikalisch gemacht habe, macht mir dieses Projekt am meisten Spaß!"

Dieser Artikel wurde geschrieben von: