Pubertät ist wie eine Unabhängigkeitserklärung
Eine der herausforderndsten Phasen im Leben mit Kindern ist die Pubertät. Die ist fürchterlich anstrengend, für die Jugendlichen aber immens prägend. Eltern müssen erziehen, um in Beziehung zu bleiben.

Von Ute Teubner
Heidelberg. Gestern noch waren sie die "süßen Kleinen", die sich vertrauensvoll an uns kuschelten, nachdem wir ihnen das Pflaster liebevoll aufs aufgeschürfte Knie geklebt hatten. Nette Gesellen, die bereits morgens in aller Herrgottsfrühe damit anfingen, putzige Liedchen zu trällern und die Kuscheltiere zu sortieren. Und jetzt?
Der Weg raus aus dem Bett führt maximal Richtung Kühlschrank oder zum nächsten Spiegel – um die Frisur zu checken. Kein Tag ohne Stress und Diskussion. Wir sind abgeschrieben. Geradezu zum Feindbild erklärt. Und wir, die Eltern, bleiben ratlos zurück: Warum haben sich Tochter und Sohn nur so verändert, quasi über Nacht? Warum erkennen wir sie auf einmal nicht wieder? Wie konnte das nur passieren?
Pubertät nennt man diese besondere Lebensphase, die bereits um das neunte oder auch erst 14. Lebensjahr beginnen kann. Sie ist geprägt von körperlichen Veränderungen (das lateinische "pubertas" heißt "Geschlechtsreife") und massiven Stimmungsschwankungen, die nicht zuletzt die Pubertierenden selbst extrem verunsichern, die diesem gewaltigen neurologischen Umbauprozess hilflos ausgeliefert sind.
Ärger, Aggression, Aufbegehren – die Luft brennt. Und das heute mehr denn je: In einer Zeit, in der die Bindungen zwischen Eltern und Kindern fester und haltbarer sind, müssen Jugendliche noch mehr Kraft aufbringen, um sich zu lösen.
Die Pubertät ist sicher die herausforderndste Phase im Leben mit Kindern. Jan-Uwe Rogge, einer der bekanntesten und beliebtesten Erziehungsberater Deutschlands, bezeichnet sie als "Unabhängigkeitserklärung des Kindes".
Genau genommen die zweite nach dem Trotzalter. "Wenn Kinder die beiden Phasen nicht durchleben können", sagt Rogge, "entwickeln sie sich nicht zu einer eigenständigen, einzigartigen Persönlichkeit." Damit ist die Pubertät nicht nur fürchterlich anstrengend, sie ist für den jungen Menschen eben auch immens wichtig und prägend.
Nachhaltig beeinflussen lassen sich diese neurologischen Prozesse nicht. Eltern können sie jedoch begleiten. Denn besagte "Unabhängigkeitserklärung" hat auch etwas mit Loslassen zu tun: "Es geht darum, mein Kind zu ermutigen, eigene Schritte und Wege zu gehen", erklärt Jan-Uwe Rogge. Wobei Loslassen nicht mit Fallenlassen verwechselt werden dürfe, denn: "Wer sich aus der Erziehung zurückzieht, zieht sich auch aus der Beziehung zurück."
Das lasse die Jugendlichen in dieser sensiblen Phase alleine zurück, mache sie halt- und orientierungslos. Rogge: "Ich ziehe mich in diesem Fall als Vater oder Mutter von meinem Kind zurück, das dann folgerichtig wie ein Säugling reagiert, dem man die Bindung vorenthält."
Natürlich empfiehlt es sich, für die Gratwanderung zwischen Haltgeben und Loslassen stets eine gute Balancierstange im Gepäck zu haben. Ob die elterliche Beziehungsarbeit letztlich jedoch immer harmonisch verlaufe oder nicht, sei gar nicht mal so ausschlaggebend, beschwichtigt Rogge. Beharrlich müsse sie sein.
Auch wenn sich der pubertierende Nachwuchs zurückziehe und sich die Kommunikation dadurch schwierig gestalte: "Es ist wichtig, miteinander im Gespräch zu bleiben und eigene Normen und Werte zu vermitteln", macht der Erziehungsberater klar. Dafür müssten die Eltern ihren Kindern allerdings das Gefühl der Gleichwertigkeit geben. Nur so könnten sich die Jugendlichen ernst genommen und gehört fühlen. Eine "respektvolle und achtsame Begleitung", orientiert an der jeweiligen Persönlichkeit von Tochter oder Sohn, sei in dieser Lebensphase das, worauf es ankomme.
Doch es gibt noch einen anderen, ganz entscheidenden Aspekt: Eltern sollten gerade jetzt auf sich selbst und ihre Beziehung schauen. Denn nur, wenn es auch ihnen gut geht, kommen die Kinder gut durch die Pubertät. "Starke Eltern sind starke Partner", lautet die Devise von Jan-Uwe Rogge.
Die Pubertät der Kinder nimmt bereits deren späteren Auszug vorweg. Würde man die renitenten Teenager zwischenzeitlich aber gerne mal auf den Mond schießen, so stürzt das endgültige Verlassen des elterlichen Nestes viele Mütter und einige Väter in regelrechte Lebenskrisen – ein Phänomen, das "Empty-Nest-Syndrom" genannt wird. Nachdem sich Schlafrhythmus, Einkäufe und Urlaubsplanung jahrelang am Nachwuchs ausgerichtet haben, ist es auf einmal vorbei mit dem Zusammenleben.
Genauer gesagt: Im durchschnittlichen Alter von 23,7 Jahren packen den Angaben des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) zufolge Kinder in Deutschland ihre Sachen und ziehen aus dem Elternhaus aus. Soziologische Untersuchungen legen eine frappierende Analogie offen: Bei Paaren, die gemeinsam Kinder großgezogen haben, steigt die Scheidungsrate nach 25 Ehejahren plötzlich an. Wer nicht früh genug angefangen hat, Selbstfürsorge und Fürsorge für sich als Paar zu betreiben, schafft es am Ende nicht, die Transformation, die das veränderte Familiengefüge erfordert, zu bewältigen.
"Wenn die Kinder in die Pubertät kommen, ist es Aufgabe der Eltern, wieder zurück in die Partnerschaft zu gehen", sagt Jan-Uwe Rogge. Denn nun beginnt nicht nur eine neue Phase in der Eltern-Kind-Beziehung; auch das Verhältnis der Eltern untereinander verändert sich, aus Mutter und Vater wird wieder primär ein Paar. "Das gesamte Familienleben pubertiert – die Pubertät ist somit eine Chance für alle Beteiligten."
Diese "neue" Partnerschaft muss jedoch auch mit neuen Inhalten gefüllt werden – frei nach dem Leitspruch: Wenn Du Kinder aus dem Haus lässt, dann hast Du keine leeren Hände, sondern die Hände frei für etwas Neues. Eine Sichtweise, die auch den Kindern das Loslassen erleichtert. "Erst, wenn sie das Gefühl haben, dass die Eltern auf partnerschaftlicher Ebene zusammen sind, können sie auch wirklich gehen", meint Rogge.
Damit der Beginn dieser veränderten Zweier-Beziehung von Mutter und Vater reibungslos verläuft, ist etwas Vorarbeit nötig. Der Start in die neue gemeinsame Etappe kann dem Erziehungsberater zufolge nur den Paaren gelingen, die sich frühzeitig wieder auf ihre Partnerschaft fokussieren. Und nicht nur das: Schon in den ersten Lebensjahren des Kindes sollten Eltern "gut für sich selbst sorgen, denn nur dann können sie auch für jemand anderen sorgen". Und so rät Jan-Uwe Rogge insbesondere den Müttern: "Geht doch mal raus, trinkt einen Cappuccino und flirtet mit Gianni!" Wer damit erst bei Auszug der Kinder anfange, komme aus dieser "Launummer" nicht mehr heraus.
BIOGRAFIE
Name: Dr. Jan-Uwe Rogge
Geboren 1947 in Stade bei Hamburg.
Beruflicher Werdegang: Rogge (Foto: 2024 Soulkitchen GmbH) studierte Germanistik, Politische Wissenschaften und Kulturwissenschaften in Tübingen; er promovierte zum Thema Kindermedien. Bis 1985 war er Wissenschaftlicher Angestellter am Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften an der Universität Tübingen und leitete Forschungsprojekte zu den Themen Familie, Kindheit und Medien. Seit 1985 arbeitet Jan-Uwe Rogge als Familien- und Kommunikationsberater und führt im In- und Ausland Seminare für Eltern und Fortbildungen für pädagogisches Fachpersonal durch. Der Erziehungsexperte war mehrfach Gast in Rundfunk- und Fernsehsendungen. Er hat – neben zahlreichen Fachveröffentlichungen – seit 1984 an die 40 Erziehungsratgeber (zuletzt 2021: "Wie Erziehung garantiert misslingt") und Kinderbücher veröffentlicht. Sein Bestseller "Kinder brauchen Grenzen” ist in rund 20 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft worden.
Pubertät: Zum Thema Pubertät hat Rogge bislang zwei Bücher vorgelegt: "Pubertät: Loslassen und Haltgeben" (2010) und "Pubertät. Der Akuthelfer für Eltern" (2015), beide erschienen bei Rowohlt.
Zusammen mit dem Diplom-Pädagogen Matthias Jung macht er Erziehungskabarett: In ihrem aktuellen Programm "Chill mal!" verraten die beiden "Pubertäts-Docs" ihre besten Tricks.
Privat: Jan-Uwe Rogge lebt zusammen mit seiner Frau Regine in Bargteheide. Das Paar hat einen erwachsenen Sohn.
Info: Unter www.jan-uwe-rogge.de gibt es Erziehungstipps, Veranstaltungstermine und Rogges Blog.