Diagnose: Multiple Sklerose – Eine Ayurveda-Therapie macht Claudia Mut

Die geborene Kämpferin will sich nicht mit der Diagnose "unheilbar" abfinden und entscheidet sich für einen ganz eigenen Weg. Sie fühlt sich gut dabei. RNZ-Autor Marc Vorsatz hat die junge Frau begleitet.

02.09.2016 UPDATE: 03.09.2016 06:00 Uhr 4 Minuten, 41 Sekunden

Yoga, Massagen, Ölgüsse, veränderte Ernährung und viel Schlaf sind Teil der ayurvedischen Lebensweise. Foto: Fotolia

Als Claudia P. die Diagnose Multiple Sklerose erfährt, bricht eine Welt für die junge Frau zusammen. Die "Krankheit mit den tausend Gesichtern" ist fortschreitend und gilt hier zu Lande als unheilbar. Ein akuter Schub wird in der Regel mit hohen Dosen Kortison behandelt, inklusive bekannter Nebenwirkungen. In Indien geht man einen ganz anderen, sanften Weg: Ayurveda-Therapien in spezialisierten MS-Kliniken. Claudia lebt nun nach den Prinzipien der alten Heilkunst. Es geht ihr gut damit.

Für Claudia P. beginnt die schönste Stunde des Tages: Kashaya Dhara, die Ganzkörper-Ölmassage. Warm und dickflüssig umschmeichelt das Sesamöl ihren Körper, zwei geschickte Frauenhände verteilen es mit einer Ruhe und Gelassenheit, die typisch ist für Südindien und die im deutschen Gesundheitsbetrieb nur schwer vorstellbar wäre. Rund 50 verschiedene Heilkräuter verleihen dem ayurvedischen Guss ein sattes Grün - und eine heilende Wirkung. Eine Wohltat für Körper, Geist und Seele im tropischen Kerala.

Und die hat die 26-jährige Berlinerin auch bitter nötig. Eines Morgens unter der Dusche spürt sie ihren linken Arm nicht mehr. Als nach ein paar Tagen dieses merkwürdige Taubheitsgefühl noch immer da ist, fängt sie an, sich langsam Sorgen zu machen. Dann gleitet ihr ein volles Wasserglas aus der Hand. Einfach so. Sie konsultiert ihren Hausarzt, eine Odyssee beginnt. Schließlich eröffnet ihr ein Neurologe die niederschmetternde Diagnose: Multiple Sklerose, die "Krankheit mit den tausend Gesichtern". Unheilbar. Claudia leidet an einer chronischen Entzündung des zentralen Nervensystems.

Zum Verständnis: Nervenfasern sind, ähnlich elektrischen Kabeln, von einer Schutzschicht, dem Myelin, umgeben. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass eigene Abwehrzellen diese Ummantelung und damit schließlich auch den Nerv selbst schädigen. Eine sogenannte Autoimmunreaktion. Die Information vom Gehirn erreicht infolgedessen den Adressaten, zum Beispiel die Hand, nicht mehr oder nicht mehr vollständig und schnell genug.

Sie müsse sich aufs Schlimmste einstellen: Rollstuhl, Inkontinenz und Siechtum, erfährt sie aus den einschlägigen MS-Foren im Internet, in der Mediziner-Szene auch Morbus Google genannt. Der Neurologe drückt sich da etwas verhaltener aus. Doch die Botschaft ist klar. Für die junge Geschäftsführerin bricht eine Welt zusammen. Ein Jahr vergeht mit weitgehend beschwerdefreien Phasen, unterbrochen von heftigen Krankheitsschüben, Klinikaufenthalten, Kortison und depressiven Schieflagen.

Doch Claudia ist eine geborene Kämpferin, will sich einfach nicht abfinden mit der Diagnose "unheilbar". Sie surft weiter durchs Netz, tauscht sich mit Leidensgenossinnen aus und bekommt schließlich einen Tipp: In Indien gäbe es Ayurveda-Kliniken, die sich auf Multiple Sklerose spezialisiert haben und die die Autoimmunerkrankung erfolgreich behandeln würden. Dann ging alles Schlag auf Schlag. Ein paar Tage später schon kontaktiert sie den ayurvedischen Arzt Prasanth Raghavan, der in Indien als Koryphäe in Sachen MS gilt. Denn was hat sie zu verlieren? Außer acht Wochen Zeit und täglich 100 Euro für Diagnose, Therapie, Unterkunft und ayurvedische Verpflegung plus Flug? Ayurveda (Sanskrit: "Wissen des Lebens") ist die älteste Gesundheitslehre mit fortlaufender Tradition weltweit und bis heute die führende Volksmedizin in Südasien.

Es folgt ein zweimonatiger Aufenthalt im MS-Krankenhaus Ayush Prana im südindischen Kerala. Anfangs erschien ihr die Klinik mehr wie eine kleine, in die Jahre gekommene Ferienanlage. Ein paar Bungalows, Verwaltungs- und Gemeinschaftsräume, zentrale Küche, Open-Air-Bereich. Keine Krankenstation, nichts. Und auch die Hygiene. "So ein Haus würde in Deutschland sofort dichtgemacht werden", erinnert sich Claudia heute schmunzelnd. "Das war schon gewöhnungsbedürftig für mich, zumindest am Anfang." Doch eine Sache überzeugte die Neue. "Es wurde viel gelacht unter den Patienten aus aller Welt, die doch allesamt unter der gleichen schweren Erkrankung litten. Wie konnte das funktionieren? Die Stimmung war ausgesprochen positiv - ganz anders, als ich das von zu Hause her kannte." Und überhaupt verlief auch die erste ärztliche Konsultation recht ungewöhnlich. Da kommt der Chefarzt in Jeans, T-Shirt und Flip-Flops daher, setzt sich zu Claudia auf die Terrasse und stellt ihr ein paar merkwürdige Fragen, die so gar nichts mit MS zu tun zu haben schienen. Ansonsten beschränkt er sich aufs ayurvedische Puls-fühlen und verordnet ihr erst einmal Ruhe. Und überhaupt wirkt der jüngste Spross einer Ärzte-Dynastie eher wie ein Bollywood-Star auf Claudia.

"Die meisten der Patienten kommen aus einem hektischen Alltag. Es braucht ein paar Tage, bis sie hier wirklich angekommen sind. Erst dann kann die eigentliche Therapie beginnen", erklärt Prasanth. So nennen ihn alle hier. Auf eine förmliche Anrede mit Herr Doktor verzichtet er bewusst. "Wir nutzen die Zeit, einen Therapieplan zu erstellen und das individuelle Öl für den Patienten herzustellen."

Genutzt werden dafür fünf Basisöle, die mit dem Extrakt von bis zu 50 Heilkräutern angereichert sind. Bei der ersten Sitzung hat Prasanth auch den Archetyp, die Vata-Pitta-Kapha-Konstitution, bestimmt. Nach der ayurvedischen Lehre befinden sich ausschließlich Menschen in körperlichem und seelischem Gleichgewicht, deren drei Elemente, die Doshas, zu gleichen Teilen vorhanden sind.

Claudia ist ein klassischer Pitta-Typ, denen beispielsweise eine charismatische Ausstrahlung und Zielstrebigkeit, aber auch leichte Reizbarkeit und Schlafstörungen nachgesagt werden.

Ab Tag fünf beginnt Claudias eigentliche Therapie. Täglich eine Stunde Ganzkörpermassage mit Kräuterölgüssen, Kashaya Dhara, und das einstündige Kopfbad Shiro Vasti mit dem hochwertigsten Öl, welches direkt auf das geschädigte Gehirn wirken soll. Nicht zu verwechseln mit den aus dem Wellness-Ayurveda bekannten Stirngüssen.

"Neben den Anwendungen muss der MS-Patient jedoch hier vor allem eines verinnerlichen: Die besten Heilkräuter und Öle der Welt helfen kaum etwas, wenn sie nicht in ein ganzheitliches Konzept eingebunden sind." Prasanth schätzt die westliche Diagnostik, nicht jedoch den Reparaturmedizin-Ansatz. "Nur wenn der Erkrankte nach den ayurvedischen Prinzipien lebt, wird er die Krankheit besiegen. Ausreichend Schlaf wird dabei meist völlig unterschätzt, macht jedoch 50 Prozent des Heilungserfolgs aus." Also genauso viel wie alle anderen Maßnahmen zusammen, sprich Ölgüsse, Massagen, Ernährung, Kräutermedizin, Meditation, Yoga ..."

Dabei öffnet sich die moderne westliche Medizin hier zu Lande grade der Traditionellen Indischen Medizin (TIM), also dem Ayurveda. Im Immanuel Krankenhaus am Berliner Wannsee werden beispielsweise individuell zugeschnittene Therapiekonzepte auf der Basis naturheilkundlicher als auch schulmedizinischer Erfahrungen angeboten. Allerdings auch nur für Privatzahler. Für Professor Andreas Michalsen, Chefarzt des Hauses und Inhaber der Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde an der Berliner Charité steht jedenfalls fest: "Moderne Naturheilkunde ist durch ihre Verwurzelung in der weltweiten traditionellen Medizin die angemessene globale Medizin."

Claudia hat nach zwei Therapiezyklen in Indien ihre Lektion gelernt und versucht, ayurvedische Prinzipien in ihren Berliner Alltag zu integrieren. Dies kann jedoch bei einem arbeitenden Menschen nur zu einem Teil gelingen, wenn er nebenher auch ein wenig am gesellschaftlichen Leben partizipieren will. Und arbeiten muss Claudia, löste sie sich doch aus ihrer verkrusteten Partnerschaft. Sozialhygiene sozusagen. "In MS-Selbsthilfegruppen habe ich neue Freunde gefunden", strahlt die lebensbejahende Frau. "Die wissen genau, wovon sie reden, das macht mir Mut in schweren Stunden."

Auch ihren stressigen Job in der Werbeagentur hängte sie nach reiflicher Überlegung an den Nagel, arbeitet jetzt in einem gemütlichen Kulturzentrum. Ob sie mit dieser Tätigkeit je das Geld für den dritten Zyklus zusammenkratzen kann, steht in den Sternen. Insgesamt geht es ihr jedoch weit besser als vor Indien. Die Krankheitsschübe sind viel seltener und auch milder geworden. Hin und wieder kribbelt es unten an den Fußsohlen. Das macht ihr schon Angst. Ein Grund mehr für Claudia, achtsam und liebevoll mit sich umzugehen.

Info: Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e.V., Telefon: 06203/658-31, www.multiple-sklerose-e-v.de. MS-Ayurveda-Klinik: Ayush Prana, Dr. Prasanth Raghavan, Telefon: 0091/8086-151111 (auch Deutsch), Email: simona.gerber@web.de, www.msayurveda.com. Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. V., Krausenstr. 50,30171 Hannover, Telefon: 0511/968-340, www.dmsg.de