"Heidelberg war für mich wie die Pubertät - total aufregend"
Gespräch mit dem Regie-Altmeister Claus Peymann über das politische Theater und den aktuellen Streit um Peter Handke - Am Sonntag zu Gast im Heidelberger DAI

Zwei streitbare Künstlerpersönlichkeiten Seite an Seite: Der ehemalige Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann (links), und der designierte Literatur-Nobelpreisträger Peter Handke im Jahr 2007 während einer gemeinsamen Reise in den Kosovo. Foto: Valdrin Xhema
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. "Im Moment bin ich erschrocken über die Weltferne unserer Politiker", sagt Claus Peymann, der wohl einflussreichste Theatermacher Deutschlands. Am Sonntag spricht er im Heidelberger Deutsch-Amerikanischen Institut zu diesem Thema. Vorab gab er der RNZ ein Interview über den aktuellen Streit um seinen Dramatiker-Freund Peter Handke, der im Dezember den Literatur-Nobelpreis erhält. Außerdem erinnert sich Peymann an seine kurze, aber aufregende Zeit im Heidelberger Theater.
Herr Peymann, seit der legendären Uraufführung der "Publikumsbeschimpfung" im Jahr 1966 haben Sie viele Stücke von Peter Handke inszeniert. Nun polarisiert er wieder wegen seiner Haltung zu Serbien während des Balkankriegs und wegen seiner 2006 gehaltenen Grabrede für den serbischen Kriegsverbrecher Slobodan Milosevic. Ist die Empörung gerechtfertigt?
Ganz gewiss nicht. Es muss ja möglich sein, dass ein Schriftsteller seine Meinung vertritt und den Untergang von Jugoslawien bedauert - auch wenn er das anhand bestimmter Personen festmacht. Ich war indirekt beteiligt, weil ich 1999 Handkes Stück zum Jugoslawien-Konflikt am Burgtheater uraufgeführt habe: "Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg". Als eine Art Reisemarschall bin ich mit ihm in eine kleine Enklave in den Kosovo gereist, Handke hat dort das Preisgeld des Heinrich-Heine-Preises in eine Dorfschule investiert. Diesen Humanismus kann man ihm nicht ankreiden. Bei unserer Reise habe ich viel begriffen von seiner Haltung und seiner Religiosität, auch von seiner Liebe zu Serbien und zur serbischen Kultur.
Und der Streit jetzt?
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Dieser Konflikt ist total aufgeblasen. Letztlich spielt dabei Handkes ungewöhnlicher Charakter eine entscheidende Rolle. Er ist kein Opportunist, er richtet sich nicht nach der Mehrheit, sondern spricht seine eigene Meinung aus, wie das Schriftsteller machen sollen. Denken Sie an den Streit um Martin Walser oder um Günter Grass - das sind ungewöhnliche Persönlichkeiten, die sich nicht an die Norm halten.
Bekommt Handke also den Nobelpreis zu Recht?
Es war die schönste Nachricht des Jahres für mich, dass er den Nobelpreis bekommt. Ich bewundere ihn sehr. Das ist ein großer, alter Mann, und ich hatte das Glück, einen Teil meines künstlerischen Weges mit ihm gehen zu können. Ich erwäge, ob ich nach Stockholm mitfahre, um dabei zu sein, wenn Handke den Thron der Weltliteratur besteigt.
Ist Handke ein Autor, der in Regiekonzepte oder Fragen der Theaterleitung hineinpfuscht?
Das interessiert den Peter überhaupt nicht. Ganz ähnlich wie früher auch Thomas Bernhard sagt er: "Jetzt ist das Werk fertig, jetzt mach’ was draus." Allen Fragen und Interpretationen weicht er aus, auch das beweist seine Toleranz. Er überlässt alles den Schauspielern und dem Regisseur.
Was heißt das für den Regisseur?
Ich habe mich beim Inszenieren immer wie ein Kapellmeister empfunden und nicht wie ein Dichter. Heute halten sich die Regisseure ja für die Größten, dazu gehöre ich nicht. Als Regisseur oder Kapellmeister interpretieren wir die Werke, wir schreiben oder komponieren sie nicht.
Wie verlief Ihre ungewöhnlichste Begegnung mit Handke?
Ich bin mit ihm alt geworden. Zuerst habe ich ihn in Frankfurt getroffen, 1966 bei der Vorbereitung der "Publikumsbeschimpfung", die sonst kein Mensch inszenieren wollte. Aber ich war sofort von ihm begeistert. Wir sind zusammen Tretboot auf dem Main gefahren und wären beinahe ertrunken. Er reiste dann weiter nach Amerika, wo er die "Beschreibungsimpotenz" der "Gruppe 47" kritisierte und einen ungeheuren Skandal auslöste. Von dort aus schickte er ein paar Postkarten mit Tipps zur Inszenierung, aber nie im Detail. Er hat uns zu großem Mut aufgefordert. Es ist ganz klar: Mit der "Publikumsbeschimpfung" begann die neue Theaterliteratur. Bis heute ist er ein Vertreter eines Theaters der Dichtung und nicht des Geschreis, obwohl der Titel "Publikumsbeschimpfung" etwas anderes signalisieren mag.
Inwiefern war er innovativ?
Er hat den Rhythmus der Zeit auf die bis dahin ziemlich vertrockneten Bühnen gebracht. In seinem Alterswerk, das ich im Wesentlichen in Wien und dann auch im Berliner Ensemble inszeniert habe, ist er zu ganz anderen Ergebnissen gelangt: zur Stille, zur Ruhe, zu den Menschen. Er ist die beherrschende Figur des zeitgenössischen Dramas. Ich erhoffe mir, dass durch die Nobelpreis-Verleihung auch wieder die Dichtung ins Theater zurückkehrt.
Hintergrund
Claus Peymann wurde am 7. Juni 1937 in Bremen geboren, er ist der wohl einflussreichste Theatermacher Deutschlands. Der Regisseur steht für großes Schauspieler-Theater und ideenreiche Interpretationen von Dramentexten. Während seiner Intendanz in Stuttgart sorgte er 1977 mit
Claus Peymann wurde am 7. Juni 1937 in Bremen geboren, er ist der wohl einflussreichste Theatermacher Deutschlands. Der Regisseur steht für großes Schauspieler-Theater und ideenreiche Interpretationen von Dramentexten. Während seiner Intendanz in Stuttgart sorgte er 1977 mit dem Spendenaufruf zugunsten der Zahnbehandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin für heftige Debatten, aber der damalige CDU-Oberbürgermeister Manfred Rommel schützte ihn vor Hans Filbingers CDU-Landesregierung, die ihn entlassen wollte. Bedeutende Regie-Leistungen, etliche Preise und Einladungen zum Theatertreffen krönten seine Intendanten-Jahre in Bochum und am Wiener Burgtheater. Von 1999 bis 2017 leitete er das Berliner Ensemble (BE). Zu seinem 80. Geburtstag veröffentlichte seine Lebensgefährtin Jutta Ferbers 2017 zwei voluminöse Bände über die Zeit am BE sowie eine Biografie. An den Anfang stellte sie einen Klassenbucheintrag von 1947: "Peymann rülpst - und schaut sich triumphierend um." (voe)
Sie sind ins Heidelberger Deutsch-Amerikanische Institut eingeladen, um über das politische Theater zu sprechen. Das Theater solle "der Reißzahn im Arsch der Regierung sein", das hatten Sie zu Ihrer Programmatik erklärt, als Sie zur Jahrtausendwende die Leitung des Berliner Ensembles übernahmen. Gilt das immer noch?
Klar kann man das vertreten, obwohl ich selber eingestehen muss, dass sich für mich diese Hoffnung am Theater Bertolt Brechts und Heiner Müllers nicht erfüllt hat. Wir haben die dafür nötige neue Literatur nicht gefunden - außer Handke. Hinzu kamen die Schläfrigkeit und das Desinteresse der Politiker dieser Generation. Gut, ich habe mich zwei, drei Mal mit Gerhard Schröder getroffen, da haben wir guten Rotwein getrunken, aber über Politik wollte er gar nicht mit mir reden. Angela Merkel ist eine treue Besucherin des Berliner Ensembles, meist ist aber nur ihre verwegene Abendrobe Stadtgespräch. Es ist uns nicht gelungen, ein so spannendes, so vibrierendes Theater zu machen, wie das im Berlin der 1920er und 1930er Jahre möglich war. Das hatte ich mir eigentlich gewünscht. Es mag auch daran liegen, dass es in Berlin fast kein kulturell geprägtes Bürgertum mehr gibt. Die Nazis haben alle jüdischen Kulturbürger vertrieben, deportiert und umgebracht, das wirkt bis heute nach. Deshalb ist die Berliner Kulturszene zu einer großen Unterhaltungssoße verkommen. Besonders trostlos ist die Theaterszene, die von lauter Schnellschützen beherrscht wird. Ausgenommen vielleicht Shermin Langhoff, sie hat am Gorki-Theater eine Nische gefunden, aber das ist etwas Spezielles, eine Nische eben.
Angesichts des Rechtsrucks in Europa: Wäre es nicht an der Zeit, wieder überall Thomas Bernhards "Heldenplatz" zu inszenieren? Mit dessen Uraufführung 1988 am Wiener Burgtheater haben Sie gezeigt, wie viel nationalsozialistischer Mist über Jahrzehnte unter den Teppich gekehrt wurde.
Es ist für Theaterleute manchmal ein gewisses Handicap, wenn es eine so triumphale Aufführung gegeben hat, eine neue Inszenierung zu wagen. Heute sagen die Österreicher, dass sich ihr Land mit dem "Heldenplatz" verändert hat. Es kam alles hoch: die Verdrängung der NS-Mittäterschaft und die damit verbundenen Lebenslügen. Die Österreicher waren oft konsequentere und schlimmere Nazis als die Deutschen.
Bleiben wir bei Thomas Bernhard und dessen kleiner Trilogie "Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen". Darin gibt es die Bühnenfigur Peymann, die beim Wechsel der Intendanz den Lieblingskritiker in den Applauskoffer packt. Die Kritikerpuppe sieht aus wie Benjamin Henrichs. Was halten Sie denn von der Kritik insgesamt, sie ist ja heute ein gefährdetes Pflänzchen?
Na, das müssen Sie selber wissen. Die Bernhard-Dramolette sind eine Farce, und ich fühle mich natürlich geschmeichelt, dass ich zum Helden dieser Trilogie wurde. Sie wird noch heute am Burgtheater gespielt. Aber man sollte sie nicht überbewerten, das ist etwas Leichtes, etwas Lustiges. Und zu Benjamin Henrichs: Er war ein fantastischer Kritiker, ich schätze ihn sehr. Er konnte genau hinschauen und genau analysieren, was er sah. Es ist ein großer Jammer, dass er so krank ist und nicht mehr schreiben kann. Er ist schon fast erblindet.
Für kurze Zeit haben Sie 1966/1967 im Heidelberger Theater gearbeitet - zusammen mit Otto Sander. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Eine tolle Erfahrung, Hans Peter Doll repräsentiert als Intendant eine glorreiche Zeit des Heidelberger Theaters. Otto Sander war da, auch Ulrich Wildgruber und Hansel Brenner. Mit Otto habe ich viel gesoffen, er blieb dabei, ich nicht. Als Regisseur kann man sich das nicht leisten, als Schauspieler geht’s. Ich erinnere mich gut an die deutsche Erstaufführung von Henri Rousseaus "Die Rache einer russischen Waise" und dann auch an "Die Schlacht bei Lobositz" von Peter Hacks. Das war eine sehr schöne, sehr lebendige Zeit - wie das so ist, wenn junge Leute eine Theaterstadt auf den Kopf stellen. Meine Heidelberger Zeit war wie die Pubertät - total aufregend.
König Lears Krone haben Sie vor zwei Jahren im Staatstheater Stuttgart, der Spielstätte vieler Ihrer früherer Triumphe, für alle sichtbar an den Haken gehängt. Ein Regie-Statement, das zu Shakespeares Alterswerk passt. Passt es auch zum Regiekönig Peymann?
Nein, so eitel bin ich nie gewesen, aber es ist natürlich bezeichnend. Irgendwie bin ich schon zur Legende geworden. Ich habe mich vom Revoluzzer und angeblichen Skandalregisseur zum weisen alten Mann entwickelt. Das sind Abläufe des Lebens. Aber mein Zorn und meine Sehnsucht, mit dem Theater beizutragen zu einer friedlicheren und gerechten Welt - diese Ziele sind geblieben. Das ist eine Entwicklung bei vielen Menschen, auch bei Peter Handke, dessen Empörung und Erregung sich längst den Seitenblicken der Weisheit hingegeben haben.
Wie gut oder wie schlecht ist das Theaterangebot heute?
Als neue Bühnenkunst erleben wir meist nur noch das modische Geplapper der Regisseure, das ist trostlos. Das heutige Theater richtet sich gegen die Schauspieler und gegen die Dichtung. Durch die Nobelpreis-Verleihung an Handke kommen die Dichter und die Schauspieler hoffentlich wieder zu ihrem Recht.
Was planen Sie demnächst?
Im nächsten Jahr "Mein Fest für Boris" von Thomas Bernhard im Theater in der Josefstadt in Wien und dann wahrscheinlich auch etwas in den Kudamm-Bühnen, die gerade ihr Ersatzquartier im ehemaligen Berliner Schiller-Theater gefunden haben.
Info: DAI, Sofienstraße 12, 69115 Heidelberg. Sonntag, 20. Oktober, Beginn: 17 Uhr. Tel.: 06221 / 6073-0, www.dai-heidelberg.de