Einblicke ins Gefühlschaos einer Geflüchteten
Vladlena Sviatash in der Uraufführung "Über Leben als Ukrainer*in" im Karlstorbahnhof.

Von Ingeborg Salomon
Heidelberg. Manchmal hilft Musik, Gefühle auszudrücken, wenn Worte fehlen. Denn: "Worte haben ein kurzes Haltbarkeitsdatum, kürzer als Milch", schreibt Anastasiia Kosodii in ihrem Stück "Über Leben als Ukrainer*in", das jetzt im Heidelberger Karlstorbahnhof TiK uraufgeführt wurde. Im Untertitel macht die Dramatikerin ihre Intention noch deutlicher: "Acht Kompositionen über das Leben der Ukrainer*innen für das westliche Publikum" sind zu erleben – und wer könnte dieses sensible Thema besser auf die Bühne bringen als eben eine Ukrainerin?
Vladlena Sviatash spricht, spielt und tanzt sich 75 Minuten durch das Gefühlschaos einer Geflüchteten, die in ihrer Heimat alles verloren hat und nun in Deutschland das Ende des Krieges herbeisehnt. Ihre Schauspielausbildung schloss die 31-Jährige an der Nationalen Universität der Künste Charkiw 2014 ab, jetzt ist sie festes Ensemblemitglied am Heidelberger Theater.
Anastasiia Kosodii lebte und arbeitete als Dramatikerin und Regisseurin bis zu Kriegsbeginn in der Ukraine, seit Herbst 2022 ist sie Hausautorin am Nationaltheater Mannheim; dort läuft gerade ihr Stücke "Wie man mit Toten spricht". Für sie sei dieser Abend eine wunderbare Gelegenheit, ihre Heimatland und dessen Kultur zu zeigen, erklärte Sviatash vor Kurzem bei einer Benefizveranstaltung des Theater-Freundeskreises.
Die Schauspielerin präsentierte Kosodiis Text in ihrer Muttersprache, für die Zuschauer gab es deutsche Übertitel. Die acht Teile widmen sich jeweils einem Thema, etwa Tapferkeit, Äußerlichkeiten, Nachrichten oder Zeit. Der Begriff "Komposition" ist dabei weniger musikalisch als vielmehr sprachlich zu verstehen. Sviatash singt nur einmal, ganz zu Anfang, ein ukrainisches Volkslied, obwohl "wir Ukrainer als ein Volk gelten, das gerne und viel singt", erklärt sie. Doch diese Zeiten sind spätestens am 24. Februar 2022 abrupt zu Ende gegangen, als Putin ihr Land überfiel und seitdem mit einem brutalen Krieg überzieht.
Doch wie lang sind eigentlich 16 Monate? Um das zu verdeutlichen, reißt die Schauspielerin langsam Kalenderblätter ab und legt sie zu Boden; dazu ticken drei Metronome in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Während dieser Sequenz fallen vielleicht gerade wieder Bomben auf Charkiw oder Kiew, sterben Menschen in brennenden Häusern. Regisseur Georg Zahn und Dramaturg Jürgen Popig ersparen dem Besucher diese Bilder nicht, "diese Fotos sollte niemand sehen müssen", kommentiert Sviatash.
Während sie anfangs noch hastig einen Rucksack für die Flucht packt, entblößt sie sich im Laufe des Abends immer mehr, Pullover, Schuhe und Strümpfe fliegen über die Bühne. Sie steckt ihren Kopf in einen Wassereimer, um dann triefend nass weiterzuspielen, Assoziationen an die Foltermethode des Waterboarding liegen nahe. Sirenengeheul sowie an- und abschwellende Fluggeräusche fließen zu einem Klangteppich ineinander, den alle, die noch keinen Krieg erleben mussten, nur aus Erzählungen kennen. Oder sich auf YouTube als Video und Soundeffekt herunterladen können.
Dass auf der großen Leinwand auch TikTok-Schnipsel zu sehen waren, fanden einige lustig, andere verstörend. Ist ein Soldat mit einer Katze im Arm vor einer Kriegskulisse geschmacklos oder zeitgeistig? Moderne Medien spielen in Kosodiis Text/-Klangcollage eine große Rolle, so wird ein Chatverlauf gezeigt mit der immer gleichen Frage "Wie geht es Dir?". Die Antworten reichen vom unverbindlichen "Gut" bis zur Meldung neuer Bombardements. Für Menschen wie Vladlena Sviatash ist das derzeit oft die einzige Verbindung zu Verwandten.
Im letzten Teil der Performance richtet die Geflüchtete ihren Blick auf die Zukunft, und die kann nur heißen: Niederlage der russischen Armee, Kriegsende und dann zurück in die Heimat. Die Ukrainerin freut sich auf "die ersten Aprikosen, die Stille". Vielleicht kommt dann auch das Gefühl für Musik zurück, denn die "Fähigkeit, Musik zu hören, habe ich nach Kriegsbeginn verloren. Denn welche Musik sollte das sein?", fragt sie.
Vladlena Sviatash überzeugt und berührt in ihrer Performance mit ihrer schönen Stimme, ihrem emotionalen Spiel und ihrem außerordentlichen Körpereinsatz das Publikum so sehr, dass einige Besucher im fast ausverkauften TiK am Ende weinen. Auch die Schauspielerin hat Tränen in den Augen, als sie sich, die Hand auf dem Herzen, immer wieder verbeugt und für die Standing Ovations und etliche Blumensträuße bedankt.
Info: Weitere Vorstellungen am 19., 20. u. 21. Juli um 20 Uhr im TiK, Karten: www.karlstorbahnhof.de/tickets



