Das Nibelungenlied gerappt im Nationaltheater
Drachentöter unerwünscht: An diesem Premierenabend durfte man im Nationaltheater keine Heldenverehrung erwarten.

Von Daniel Schottmüller
Mannheim. Wann ist ein Held ein Held? Als das Nibelungenlied in Mannheim beinahe zu Ende gespielt ist, geben Kriemhild und Brünhild ihre überraschend einträchtige Antwort: Sicher nicht, wenn er plündert, mordet und seine Schwägerin vergewaltigt! Hagen von Tronje mag Siegfried gerade erdolcht haben, aber es sind die beiden Frauen, die dem Protagonisten damit den Garaus machen. Ein für alle Mal?
Dass man an diesem Premierenabend im Nationaltheater keine Heldenverehrung erwarten sollte, deutet bereits der Titel "Sick of Sickfried" an. Und als jener "Siggi" (Eddie Irle) dann mit blauen Haaren und grünen Strumpfhosen auf die Bühne des Schauspielhauses tänzelt, umweht ihn tatsächlich eher ein Hauch von "Rocky Horror Picture Show". Passend dazu tuntet Hagen (Arash Nayebbandi) im tiefen Register eines Disney-Bösewichts. Jaques Tabaques und Jaxxon Mehrzweck – ja, so steht es im Programmheft – inszenieren "das letzte Lied der Nibelungen" als knalliges Rap-Theater. Aber wo LeBrun Hild (Annemarie Brüntjen) klingt wie eine eleganter artikulierende Schwesta Ewa und Creamhild (Tala Al-Deen) in ihren Plateaustiefeln sowieso alle überragt, muss ihr Bruder (nochmal Nayebbandi) noch am Coolness-Faktor feilen. Er mag sich in Anspielung an den Kendrick-Lamar-Song als "King Kunta" bezeichnen. Aber wer sich nach jedem Satz mit einem "ja?" rückversichern muss, braucht sich nicht wundern, wenn er die Antwort "Schnauze!" entgegengeschleudert bekommt.
Dieser quietschbunte Haufen – der quirlige Nayebbandi übernimmt zeitweise sogar noch die Rolle des "Dramaturgen" – eröffnet den Zuschauern in 100 Minuten unterschiedliche Zugänge zu DEM deutschen Mythos. Julian Marbachs Bühnenbild spiegelt den multiperspektivischen Erzählansatz in fünf gläsernen Startrampen, von denen aus die fünf Protagonisten den Sagenstoff in Rapsalven aufs Publikum feuern.
Sickfrieds Drachengemetzel, Kuntas zum Scheitern verurteiltes Werben um die Amazone von Isenstein und der abstoßende Handel, den die Machos abschließen, damit es zur Doppelhochzeit Creamhild-Sickfried/LeBrun-Kunta kommen kann: Das alles wird von Jakob Hoffs atmosphärischen Beats begleitet nacherzählt. Was gekünstelt wirken könnte, bringen die Schauspieler gekonnt auf die Bühne. Ihr Spektrum reicht von Spoken-Word-Poetry über animalisches Dancehall-Gebrabbel bis hin zu Doubletime-Rap. Bevor sie Über-Gangsta Sickfried kennenlernt, darf Creamhild ihre Freier sogar mit Joan-Jett-artigem Punkrock zerfetzen. Das Publikum ist nicht ganz so eskalativ unterwegs. Obwohl die Inszenierung Partypotenzial birgt, bleibt es beim höflichen Zwischenapplaus.
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Schade eigentlich. Denn die sympathischen Akteure können noch mehr als rappen, singen und pointiert einordnen. Für "Backstage Burgund" verwandeln sie das Schauspielhaus in ein Fernsehstudio. So selbstverliebt Sickfried hier im Interview von seinen Abenteuern prahlt, könnte er als Teilnehmer einer Dating-Show durchgehen. Noch narzisstischer wird es, als LeBrun und Creamhild mit Spiegel und Kamera verschmelzen und ihren stummen Kampf selbst filmen. Instagram-Optik trifft hier auf Reality-TV.
Im Gegensatz zur Sage ist dieser Streit allerdings schnell beigelegt. Und als Siegfried und Gunther – zum einzigen Mal bedient man sich an dieser Stelle des Originaltexts – den Paarkonflikt unter Männern klären wollen, sind sich die Mädels längst wieder einig. Die beiden Dumpfbacken kriegen das natürlich nicht mit. Zu stark sind sie davon beansprucht, sich in Pose zu schmeißen, homoerotisch rumzuflirten, zu schwören und schwadronieren. Die Frauen unterbrechen das Gegockel. Schwertschwinger wie Siegfried seien einfach nicht mehr zeitgemäß, wird die Vorstellung jetzt überraschend pädagogisch. Und siehe da, auch der Protagonist selbst hat sein unsensibles Starker-Mann-Image satt. Keine Drachenhaut der Welt kann diesen "sicken" Freak vor der Leere schützen, die er verspürt.
Aber wie soll es nun weitergehen? Gibt es eine Alternative zum antiquierten Helden-Narrativ? Hagen, der Möchtegern-"Mann des Volkes", ist daran jedenfalls nicht mehr beteiligt. Und die sonst so coole LeBrun ringt vergeblich bei dem Versuch, Feminismus und romantische Liebe in Einklang zu bringen. Kunta wiederum fällt nichts Besseres ein, als sich Putin-gleich halb nackt aufs Pferd zu schwingen. "Make Burgund Great Again" steht auf seinem Käppi. Puh! Hat Creamhild weniger Stumpfes anzubieten? Bedingt. Ihre Vision vom Aufbau eines Businessimperiums wirkt zwar inspirierter, aber nicht minder egoistisch. Bevor die Powerfrau einen Merchandise-Stand im Foyer des Nationaltheaters aufbaut, sollte in den letzten Minuten besser noch ein Ausweg gefunden werden. Oder müssen wir uns damit abfinden, dass wir den glorreichen Einzelschlächter zwar als fehlleitendes Ideal enttarnen, aber einfach nicht ersetzen können?
Immerhin: Die Abschlussszene macht Mut. Und auch wenn die großen neuen Geschichten vielleicht noch nicht geschrieben sind, zeigt "Sick of Sickfried", dass es sich bis dahin lohnt, die alten aufzumischen. Peace!