Berührende Einblicke in den Anstaltsalltag
Wie lebten Psychiatriepatienten? Die Heidelberger Prinzhorn-Sammlung zeigt die Ausstellung "Hinter Mauern".

Von Jutta Schneider
Heidelberg. Das Museum "Sammlung Prinzhorn" präsentiert als erste von drei Stationen die Ausstellung "Hinter Mauern" mit Fotografien von 1880 bis 1935 aus psychiatrischen Einrichtungen der Schweiz. Den Anstoß gab die Kunsthistorikerin Katrin Luchsinger, die mit Martina Wernli vom Kunstmuseum Thurgau 3000 Fotos, Glasdiapositive und – negative aus sechs Schweizer Archivbeständen sichtete, ein Großteil davon aus der Kantonalen Irrenanstalt Waldau/Bern.
Schon der Ausstellungstitel lässt erahnen, dass es um einen Bereich geht, zu dem die Bevölkerung kaum Zugang hatte – weder direkt noch gedanklich. Vielmehr verschwanden Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen in geschlossenen Anstalten. Ihre Schicksale blieben Außenstehenden verborgen, ob in der Schweiz, in Deutschland oder auch anderswo.
Die Ausstellung ist in mehrere Themenbereiche gegliedert. Es gibt Architekturaufnahmen kompletter Anlagen, auf denen keine Menschen zu sehen sind, für die professionelle Fotografen beauftragt worden waren, außerdem "gestellte" Gruppenfotos von Anstaltspersonal, dessen Blicke aus dem Bild heraus auf den Betrachter gerichtet sind. Auf Fotos mit Patientinnen und Patienten wird dieser direkte Blickkontakt oftmals vermieden oder sogar verweigert. Bei einzeln Porträtierten kann sogar eine abweisende Haltung vermutet werden. Die Fotos wurden zumeist von Psychiatern und Psychiaterinnen aufgenommen, die damals üblicherweise in den Einrichtungen wohnten. Sie beabsichtigten mit den Bildern zum Beispiel eine Erkrankung zu Beginn und am Ende eines Anstaltsaufenthalts für Fachpublikum zu dokumentieren. Ganz besonderes Augenmerk wurde daraufgelegt, Positives festzuhalten und die Anstalten als besonders ordentlich erscheinen zu lassen. Fotoaufnahmen verschiedener Aktivitäten sollten von einem abwechslungsreichen Alltag zeugen.
Tatsächlich war dieser aber durch gleichförmige inhaltslose Beschäftigungen geprägt. Die Ausstellungsmacherinnen gelangten zu der Erkenntnis, dass sich die Sichtweisen, die durch die Fotos vermittelt werden sollten, ganz erheblich von der Laienperspektive unterscheiden, sind doch Symptome für Außenstehende kaum nachvollziehbar. Letztlich bleibt es bei einer Zurschaustellung der Personen ohne deren Einwilligung. Anstaltsinsassen werden im Rahmen der "Arbeitstherapie" gezeigt bei der Verrichtung – je nach gesellschaftlicher Herkunft niedriger Arbeiten wie Gemüseputzen oder Seegraszupfen. Erster-Klasse-Patienten erhielten Gelegenheit zum Handarbeiten.
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Das Mehrklassensystem belegt auch ein Speisezettel von 1916 aus der Sammlung Prinzhorn. Ausgewählte Werke aus der Heidelberger Sammlung ergänzen die Schweizer Fotografien. Die Zeichnungen bilden quasi die "Gegenseite" ab, nämlich die Sicht von Patienten, die so ihren Anstaltsalltag und die mitunter grausamen Therapieformen beschreiben. Dabei werden auch Zeichnungen des Künstlers Adolf Wölfli gezeigt, den Marie von Ries-Imchanitzky, Assistenzärztin in der Waldau, fotografiert hat.
Info: Zu sehen in der Sammlung Prinzhorn, Voßstraße 2, bis 31. Juli, Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, Mittwoch 11 bis 20 Uhr, Führungen unter 06221/56-4492.



