Die Meisterin der Wiederverwertung
Im Kurpfälzischen Museum Heidelberg zeigt Angelika Dirscherl ihre Ausstellung "Echt jetzt?"

Von Ingeborg Salomon
Heidelberg. Ob zerknittert oder gefaltet, ob abgerissen oder glattgebügelt, ob in winzigen Schnipseln oder in breiten Bahnen – Papier übt auf Angelika Dirscherl eine starke Faszination aus. Und das seit Jahrzehnten (siehe Kasten). Die 65-Jährige fährt beruflich doppelgleisig: Seit 1985 ist sie das stets freundliche Gesicht der Malstube des Kurpfälzischen Museums (KMH), zudem ist sie aber auch eine sehr eigenständige Künstlerin, die fest in der Heidelberger Kulturszene verankert ist.
Dass sie jetzt der Bitte von Dr. Frieder Hepp nachkam und vor ihrer Pensionierung erstmals ihre Arbeiten in einer Einzelausstellung im Haus präsentiert, freut den Direktor des KMH besonders, wie er erklärte. "Angelika Dirscherl hat ein Gespür für Material und für Schönheit", so Hepp. Sinn für Humor hat sie auch, der Ausstellungstitel "Echt jetzt?" ist ganz dem Zeitgeist geschuldet, Dirscherl hört diese Frage wohl oft bei ihrer Arbeit in der Malstube und beim Gang mit Besuchern durch das Museum.

Auch Bürgermeister Wolfgang Erichson zeigte sich von Dirscherls Arbeiten begeistert. "Noch nie lag mir eine ganze Kommunalwahl zu Füßen", schmunzelte er mit Blick auf ein wabenförmiges Kunstwerk, ähnlich einem dreidimensionalen Teppich. Angelika Dirscherl hat dazu Wahlbriefumschläge der Heidelberger Kommunalwahl gefaltet und geklebt, so dass ein knallgelber Hingucker entstanden ist – der noch dazu äußerst nachhaltig ist.
In Zeiten, in denen "Digitalisierung und Entkörperlichung wie eine Monsterwelle" über uns wegrollen, sei es wichtig, dem Echten und Authentischen Raum zu geben. "Wappnen wir uns mit Kunst gegen Ignoranz und Gewalt", appellierten Hepp und Erichson an die Besucher, die zahlreich zur Vernissage erschienen waren.
Sehr sachkundig führte die Kunsthistorikerin Eva Wick in die Arbeitsweise und die Gedankenwelt von Angelika Dirscherl ein. Sie erinnerte an die zur Berliner Dada-Bewegung gehörende Künstlerin Hannah Höch, die Dirscherl selbst als Vorbild nennt. Höch machte mit ihren Collagen Furore, sie überraschte und provozierte ihre Zeitgenossen in den 1920-er Jahren immer wieder. Dirscherl verfährt ähnlich: Sie beschreibt ihre Papiere, leserlich oder unleserlich, mit eigenen oder fremden Texten. "Handtellermemoires" nennt sie das Ergebnis.
Aus alten, in Streifen geschnittenen Ausstellungsplakaten flicht sie die Papierskulpturen "Trabanten", die wie Bälle zum Spielen einladen. "Weitsicht" heißt eine Collage aus grünem und blauen Verpackungspapier, das an Meereswellen denken lässt. Sehr eindrucksvoll und offenbar mit einem Augenzwinkern entstanden sind die "Rüstung", ein Herrenwollmantel, über und über bestickt mit verschiedenen Knöpfen – in den man sofort hineinschlüpfen möchte.
Das Material wird der findigen Künstlerin gewiss nicht ausgehen, obwohl Papier knapp ist und ständig teurer wird. Aber ihre Museumskollegen versorgen sie gerne mit ausrangierten Plakaten und Kartons, und ab und zu macht Dirscherl sogar eine Erbschaft: So übertrug ihr eine Frau über 500 Schwarz-Weiß-Postkarten aus ihrem privaten Fundus. Die erzählen dann eine ganz neue Geschichte, nachdem sich die Künstlerin ihrer angenommen hat. In ihrem Atelier in einem Heidelberger Hinterhof wartet noch so einiges, was andere getrost als Abfall bezeichnen, darauf, unter Angelika Dirscherls geschickten Händen ein zweites Leben zu beginnen.
Info: Die Ausstellung "Echt jetzt?" ist bis 3. Juli zu sehen im Kurpfälzischen Museum Heidelberg, Hauptstr. 97, geöffnet ist Die bis So von 10 bis 18 Uhr. Es gibt ein vielfältiges Begleitprogramm und einen liebevoll gestalteten Katalog im Wunderhorn-Verlag.



