Internationales Filmfestival zwischen Wirklichkeit und Dokumentation
Fünf Dokumentarfilme sind im Programm beim Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg dabei
Von Kirsten Kieninger
"Ich hasse das Wort ’Dokumentarfilm’", schreibt Festivaldirektor Michael Kötz im Programmheft. Er bevorzugt die Umschreibung "Wirklichkeitsfilm". Das ändert nichts an der Tatsache, dass sich unter den gut 40 Filmen, die das Festival zeigt, gleich fünf Dokumentarfilme finden. Vom beobachtenden Dokumentarfilm bis zum Essayfilm, von einer kleinen Dokumentation in TV-Ästhetik bis zur großen dokumentarischen Kinoproduktion: Eine große Bandbreite dokumentarischen Schaffens ist in diesen fünf Filmen versammelt.
"27 Times Time" von Annick Ghijzelings ist eine persönliche Meditation über das Phänomen Zeit. Ausgehend von einem Besuch in Polynesien und dem Eintauchen in das Zeitempfinden der Insulaner entspinnt die belgische Filmemacherin eine mäandernde Reise durch Philosophie und Physik, durch Geschichte und Gegenwart, Kulturen und Natur. Verschiedenste Facetten des Phänomens Zeit verbindet sie in einem reflektierenden Bewusstseinsstrom, in den sie den Zuschauer mit ihrem poetischen, aus dem Off geraunten Kommentar hineinzieht. Und wenn die Kamera irgendwann von einem fahrenden Schiff aus auf ein parallel am Kai entlangfahrendes Auto blickt, dann wird sogar die Relativitätstheorie greifbar, ganz ohne den Weltraum bemühen zu müssen.
Auch "Beyond Boundaries" des Österreichers Peter Zach ist ein Essayfilm. Ein poetisches Roadmovie entlang der Grenzen Sloweniens zu Österreich, Ungarn, Kroatien und Italien. Eine Kontemplation über die Auflösung von Grenzen und die Definition von Identitäten. Aus dem Off liest eine Frauenstimme Postkarten vor: "Er schrieb mir, dass er sich zu den Grenzen aufgemacht habe" - die Texte sind Gedichte des slowenischen Autors Aleš Šteger. Der Film sucht die Begegnung mit den verschiedensten Menschen und trifft in Triest auch auf den inzwischen 103-jährigen Autor Boris Pahor. Weltgeschichte und persönliche Geschichten gehen in "Beyond Boundaries" Hand in Hand. Der Film nimmt sich viel Zeit für seine Erkundungen. Gegen Ende kontert ein alter Mann, der in seinem Leben schon Montenegriner, Serbe und Slowene war, die sinnierende Hinterfragerei ganz bodenständig: "Ich glaube nur an zwei Nationalitäten: Entweder ist man ein Mensch oder ein Arschloch".
"Germans & Jews" der gebürtigen Deutschen Janina Quint macht eine andere Dichotomie auf: Nazis und Juden. Wie ist das heute, wo es viele junge Leute jüdischen Glaubens aus aller Welt nach Berlin zieht? Ist Argwohn ob der deutschen Geschichte noch Thema im Alltag? Sie befragt ihren Berliner und New Yorker Freundeskreis und lässt Prominente wie Herbert Grönemeyer zu Wort kommen - viele ins Bild gerückte talking heads mit Musikbett unterlegt, ganz im Stile einer TV-Dokumentation.
Auch interessant
"Lampedusa in Winter" von Jakob Brossmann dagegen ist sehr filmisches, konzentriert beobachtendes dokumentarisches Kino, das gleichzeitig Flüchtlings- und Wirtschaftskrise fokussiert: eine Gruppe geretteter Flüchtlinge demonstriert, um auf das italienische Festland weiterreisen zu dürfen, während die örtlichen Fischer für eine bessere Fährverbindung streiken, um ihr wirtschaftliches Überleben zu sichern. Mittendrin eine resolute Bürgermeisterin und besonnene Einheimische, die helfen, wo sie können.
Ein besonderes Kino-Highlight ist "The Land of the Enlightened": ein hybrider Dokumentarfilm mit atemberaubenden Bildern aus Afghanistan, die Pieter-Jan De Pue über die Jahre mit seiner 16-mm-Filmkamera gemacht hat, während er als Fotograf durch das kriegsgeschüttelte Land reiste. Kombiniert mit Szenen, die er mit einer Gruppe Kinder inszeniert hat, ist eine kraftvolle mythische Erzählung von Krieg, Kindheit und Überlebensstrategien entstanden. Ein audiovisueller Fiebertraum aus einem faszinierenden, versehrten Land. Der Film ist beim Europäischen Filmpreis als Bester Dokumentarfilm nominiert.
Info: www.iffmh.de