Heidelberger Stückemarkt

Weg mit den Schwarzen Listen

Die Theaterszene Südkoreas hat sich neue Freiräume erkämpft - Beim Heidelberger Stückemarkt präsentiert sie Ende April ihre Vielfalt - Impressionen aus Seoul

02.04.2018 UPDATE: 08.04.2018 06:00 Uhr 4 Minuten, 13 Sekunden

Von Volker Oesterreich

Heidelberg. Auf den Märkten tobt das wahre Leben: quirlig, geschäftig, sinnlich. Besonders turbulent und exotisch geht’s auf den verwinkelten Märkten der südkoreanischen Elf-Millionen-Metropole Seoul zu. Vieles davon wird man in künstlerisch sublimierter Form auskosten können, wenn sich Ende April das asiatische Gastland mit neuen Theatertexten und Inszenierungen beim Heidelberger Stückemarkt präsentieren wird - mit einer dezidiert politischen und gesellschaftskritischen Dramatik, die teilweise so scharf gewürzt ist wie die Nudelsuppen oder die 1000 Kimchi-Varianten auf dem Namdaemun- oder dem weniger stark von Touristen frequentierten Gwangjang-Markt. Der fermentierte Kohl wird in Korea zu jeder Mahlzeit in den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen gereicht, auch schon zum Frühstück.

Zur Vorbereitung des Theater-Festivals sind Heidelbergs Intendant Holger Schultze und die Schauspiel-Dramaturgin Lene Grösch nach Seoul gereist - als Vorkoster des vielfältigen Angebots. Eingeladen wurden sie dazu von der südkoreanischen Kulturbehörde Arco. Die Pressekonferenz der beiden Heidelberger Gäste über die Zusammenarbeit von Arco mit dem Goethe-Institut und dem Heidelberger Stückemarkt war für die Koreaner etwas ganz Besonderes. Damit die Präsentation ja nicht mit der ursprünglich zeitgleich angesetzten Pressekonferenz aus Anlass einer großen Kunstausstellung konkurrieren muss, wurde sie um einen Tag verschoben. Es hat funktioniert, großer Bahnhof in Seoul für ein Heidelberger Kulturevent mit internationalem Profil. Lene Grösch und Holger Schultze stellten ihr Konzept mit deutschsprachigen und koreanischen Novitäten vor rund 50 Journalisten vor.

Wie ticken die Koreaner, wie die Deutschen - und wie wird das auf der kulturellen Ebene gespiegelt? Vor allem diese Fragen stehen im Zentrum des Festivals. Das wurde bei den vielen Hintergrundgesprächen und Theaterbesuchen in Seoul mehr als deutlich. Die Szene vibriert. Jenseits des repräsentativen Seoul Arts Center südlich des Hangang River und des Nationaltheaters unterm markanten Fernsehturm florieren mehr als 100 kleine Bühnen sowie etliche Produktionshäuser, die ähnlich arbeiten wie etwa das Theaterhaus Stuttgart oder das HAU in Berlin. Sie verfügen - teils öffentlich gefördert, teils in der Trägerschaft von Stiftungen, aber auch als konzerneigene Kultureinrichtungen - über kleine Produktionsstäbe, die von Inszenierung zu Inszenierung mit freien Künstlerkollektiven zusammenarbeiten. So wie im Namsan Arts Center. In dem 1962 mit Mitteln der Rockefeller-Foundation errichteten Bau stehen die zeitgenössische Dramatik und die Förderung junger Talente in einer angeschlossenen Theaterakademie im Zentrum.

Yeon Woo leitet die Bühne, die auch experimentellen Studien im Frühstadium offen steht. Die Künstler sollen in einer Art Laborsituation austesten, wohin sich ihre Arbeit entwickeln kann. Auffällig während eines fast wortlosen Spektakels über Traumata in einer Polarlandschaft ist das durchweg junge Publikum. Vor allem die 20- bis knapp 40-Jährigen kämen ins Namsan Arts Center, bestätigt die Direktorin: "Wir konzentrieren uns auf soziale, gesellschaftskritische Themen wie Zensur, Gender-Fragen, Generationenkonflikte oder den koreanisch-japanischen Konflikt", sagt sie. Letzterer sei noch immer nicht richtig aufgearbeitet - vor allem nicht die schweren seelischen Schäden, die koreanischen Frauen als "Comfort Women" (Sex-Sklavinnen) von japanischen Truppen während des Zweiten Weltkriegs zugefügt worden seien.

Ein gewaltiger Ruck ging durch die südkoreanische Gesellschaft, als klar wurde, dass während der Regierung der korrupten und Ende 2016 vom Amt suspendierten Präsidentin Geun-Hye Park rund 10.000 Künstler auf Schwarzen Listen geführt wurden. Mit fatalen Folgen, denn sie durften nicht mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Theaterdirektoren oder Kulturmanager mussten sich daran halten, während die betroffenen Autoren, Regisseure oder Schauspieler nicht ahnen konnten, warum ihre Projekte immer wieder abgelehnt wurden. Inzwischen atmen sie ihre Luft unbeschwert und können sich voll und ganz ihrer Kreativität widmen. Auch die zum Heidelberger Stückemarkt eingeladene, mehrfach preisgekrönte Autorin Yeon-ock Koh stand bis 2016 auf der Schwarzen Liste. "Ich kenne bis heute nicht die Gründe", sagt sie, "es kommt mir vor wie ein absurdes, beängstigendes Spiel." Beim Wettbewerb des Stückemarkts konkurriert sie mit Yanggu Yi und Jae-Yeop Kim um den Internationalen Autorenpreis. Yeon-ock Kohs von Ferne an den Medea-Stoff erinnerndes Stück "Das Gespür einer Ehefrau" kreist um Kindsmörderinnen, wobei die Krimihandlung mit traditionellen Mythen überhöht wird, auch mit einer Wolfslegende.

Ganz anders reibt sich das Produktionskollektiv VaQi in dem Stück "Before After" an der jüngsten Geschichte Südkoreas - konkret am Skandal um den Untergang der Sewol-Fähre. 2014 kamen dabei viele Schulkinder ums Leben, die Schiffskatastrophe erschütterte die Nation in ihren Grundfesten. "Es wurde klar, wie sehr die damalige politische Kaste in ein System von Schlamperei, Vertuschung und Korruption verwickelt war, alles kam nach dem Untergang ans Licht", sagt der Regisseur Kyungsung Lee, der dieses Stück im Theater des Maschinenbau- und Kraftwerk-Konzerns Doosan auf die Bühne gebracht hat. Zugleich gesteht der Regisseur ein, dass er nach der ersten Euphorie über die Gastspiel-Einladung nach Heidelberg doch etwas zögerlich war: "Ich wusste zunächst nicht, ob ich sie annehmen sollte. Denn die Ereignisse liegen ja schon eine Weile zurück." Inzwischen interessiere er sich mehr für Fragen des Friedens und der Freiheit. Dies hätte aber nichts mit dem gerade wieder bei den Olympischen Winterspielen begonnen politischen Tauwetter zu tun und der dabei praktizierten Gemeinschaft von Sportlern aus Nord- und Südkorea.

Solche Phasen der Dialogbereitschaft und der bald darauf wieder folgenden Abschottung habe es immer wieder gegeben, betonen Kyungsung Lee und der Doosan-Produktionsmanager Yoonil Nam übereinstimmend: "Auf die Drohgebärden und Raketentests des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un reagiert man in Südkorea viel gelassener als im Rest der Welt." Auch die in Kürze erwarteten Begegnungen zwischen Kim Jong Un und dem südkoreanischen Präsidenten Moon Jae In sowie das Gipfeltreffen des Nordkoreaners mit Donald Trump betrachten die beiden Theaterleute frei nach dem Motto "Abwarten - und Kimchi essen". Vorschusslorbeeren für die Polit-Poltergeister gibt’s nicht, höchstens ein vornehmes Lächeln.

Andere Probleme lasten den Künstlern viel mehr auf der Seele: der extrem hohe Leistungsdruck in der Arbeitswelt zum Beispiel. Ein gerade im Doosan-Center gezeigtes (aber nicht nach Heidelberg eingeladenes) Stück über den rigiden Umgangston in Call-Centern zeigt das überdeutlich. Die Arbeitsbelastung führt in Südkorea zu einer der höchsten Selbstmordraten der Welt. Zentrales Thema - zumindest bei Diskussionen der Künstler mit Deutschen - ist immer wieder die Wiedervereinigung. Daran erinnern mitten im Zentrum Seouls auch drei Fragmente der Berliner Mauer, daneben einer der kitschigen "Buddy"-Bären, Marketing-Maskottchen der deutschen Hauptstadt.

Heidelbergs Intendant Holger Schultze unterstrich in Seoul ebenfalls die großen Parallelen zwischen der koreanischen und deutschen Geschichte: "Wirtschaftswunder, geteilte Nation und der Wille, alle gesellschaftlichen Fragen auf vielfältige Weise auf den Bühnen zu reflektieren - das ist uns gemeinsam." Nach dem Adelante-Festival mit iberoamerikanischen Gastspielen im Frühjahr 2017 ist der diesjährige Stückemarkt-Brückenschlag nach Südkorea ein weiterer Eckpfeiler in Schultzes Programmatik, Theater für die Stadt und die ganze Region mit internationalem Anspruch zu bieten. Dem "Weltdorf des Geistes", wie Heidelberg gern genannt wird, steht das gut zu Gesicht.

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