Heidelberger Stückemarkt

Die Theaterlandschaft gescannt

Gespräch mit Holger Schultze und Jürgen Popig über den Heidelberger Stückemarkt

18.03.2019 UPDATE: 21.04.2019 06:00 Uhr 3 Minuten, 14 Sekunden
In einen Strudel der Stimmen führt ein Frauenkollektiv in dem Stück "Frau im Wald" von Julia Haenni, mit dem das Theater Marie (Aarau, Schweiz) beim Heidelberger Stückemarkt gastiert. Während des Theaterfestivals spielen in der Folge der Metoo-Debatte auch Sexualität und Gender-Debatten eine große Rolle. Foto: Xenia Zezzi

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Die 36. Festivalausgabe (26. April bis 5. Mai) wartet mit brisanten Themen auf: von der Sexualität bis zum Gastland Türkei.

Das deutsch-türkische Verhältnis war in den letzten Jahren angespannt. War die Organisation des Gastlandes Türkei schwierig?

Schultze: Unsere Dramaturgen Katrina Mäntele und Jürgen Popig waren in Istanbul und Ankara. Dort findet ganz viel Theater statt. Allein in Istanbul gibt es jeden Tag 150 Aufführungen. Aber interessanterweise oft in Garagen, Lagerräumen, Kellern.

Popig: Wir waren gespannt, wie das Theater auf die politische Situation reagiert und ob kritisches Theater überhaupt noch möglich ist. Wir waren sehr überrascht, wie lebendig, vielfältig und engagiert die Szene ist. Es werden auch neue Theater gegründet. Als wir in Istanbul waren, geschah dies in einem Hinterhaus. Von dort haben wir einen Autor zu unserem Wettbewerb eingeladen. Und alles hat sein Publikum, was sicher mit dem Ausnahmezustand zu tun hat, denn demonstrieren darf man nicht mehr. Die freie Theaterszene hat die wichtige Funktion, Widerstand zum Ausdruck zu bringen. Eine Ausnahme bildet das öffentlich geförderte Städtische Theater Istanbul, das jedoch kritisches Potenzial hat. Von dort haben wir das tolle Stück "I love you Turkey" eingeladen. Die staatlichen Bühnen bieten Unterhaltungstheater.

Gibt es eine Förderung der Türkei?

Schultze: Nein, wir haben eine Förderung durch das Goethe-Institut. Die politische Situation wird jedoch in Heidelberg thematisiert. Zum Beispiel das Abschlussstück "Mechul Pasa - Die Geschichte einer verbotenen Zeitung" steht zwar für einen historischen Fall, ist aber zugleich eine scharfe Kritik am Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit. Dieses Stück wird in Istanbul mit großem Erfolg gespielt. Der Stückemarkt hat schon lange einen gesellschaftspolitischen Fokus.

Warum wurde die Türkei als erstes Land nach 2011 zum zweiten Mal eingeladen?

Popig: In den letzten Jahren ist viel passiert. Seit den Gezi-Protesten 2013 und dem Putschversuch 2016 sind die Förderungen für freie Theater gestrichen. Aber alle Vorstellungen, die wir gesehen haben, waren ausverkauft, obwohl die Eintrittspreise hoch sind. Das Publikum akzeptiert die Preise, weil es hier noch eine Möglichkeit des Austauschs gibt. Unsere Partnerinnen in der Türkei sind Zinnure Türe, deren Rechercheprojekt "Zwischenraum" als Heidelberger Kooperation bereits auf dem Spielplan steht, und die Stückemarkt-Kuratorin Gülhan Kadim, die Leiterin des Istanbuler Kumbaraci Theaters.

Welche Themen gibt es im Türkei-Programm?

Popig: Beim Autorenwettbewerb geht es in "Gefüllte Weinblätter mit Ruß" um Gewalt gegen Frauen. "Der Gast" ist eine politische Satire über die neuen Tendenzen der Fremdenfeindlichkeit sowie des Nationalismus. Und "Das Feuer in mir" enthält fünf Entwürfe zum Weltuntergang. Bei den Gastspielen - neben den schon erwähnten Aufführungen - ist "Zwei" eine Performance an der Schnittstelle von Tanztheater und Schauspiel, "Light-Theory" ist ein Stück über Geflüchtete. In "Lieber schamloser Tod" geht es um ein Mädchen vom Land, das mit seiner religiösen Prägung in der Stadt einen Kulturschock erlebt.

Die in Heidelberg uraufgeführte Koproduktion "Zwischenraum (Istanbul - Heidelberg)" ist ein Gastland-Vorläufer.

Schultze: Das Heidelberger Theater profiliert sich immer mehr durch internationale Produktionen. Zu "Zwischenraum" kamen viele türkische Mitbürger, die von der Aufführung betroffen waren. Da wurde ein Nerv getroffen.

Intendant Holger Schultze (rechts) und Chefdramaturg Jürgen Popig. Foto: Rothe

Welche Tendenzen gibt es beim Deutschsprachigen Autorenwettbewerb?

Popig: Die Teilnehmer sind praktisch allesamt Newcomer. Thematisch gibt es eine große Vielfalt unter den 96 Einsendungen: Sie reicht vom Rechtsruck ("Der Reichskanzler von Atlantis") bis zur Migration ("Ein Berg, viele"). In "Honig" geht es um die Frage, was mit einem Krisengebiet nach dem Rückzug der Besatzer geschieht. Die Überschreibung eines klassischen Werkes findet sich in "Werther".

Es gab wohl noch keinen Stückemarkt, auf dem die Sexualität so breiten Raum einnahm wie jetzt.

Schultze: Das sind auch Folgen der MeToo-Debatte. Es gibt verschiedene Varianten wie etwa die Homosexualität in der Rosa von Praunheim-Biographie vom Deutschen Theater Berlin. In "No Sex" von den Münchner Kammerspielen geht es um das Leben außerhalb des Sex. Ich glaube, dass diese Stücke gesellschaftliche Situationen widerspiegeln. Sexuelle Selbstbestimmung und Gender-Debatten werden immer wichtiger.

Rückt jetzt eine neue Autorengeneration nach?

Popig: Ja. Zum Beispiel Christine Eder und die Musikerin Eva Jantschitsch haben am Volkstheater Wien mit "Verteidigung der Demokratie" einen eigenwilligen Theaterabend geschaffen. Und der Japaner Toshiki Okada ("No Sex") ist sehr interessant. Zu den ganz neuen tollen Stücken zählt auch "Erinnya" von Clemens Setz aus Graz.

Neben Spitzenhäusern aus Deutschland und Österreich gibt es jetzt Kooperationsprojekte und auch Bühnen - aus Marburg, Nürnberg, Graz - die nun vermehrt eingeladen werden.

Schultze: In Marburg machen zwei junge Frauen hochspannendes Theater. Aber in den betreffenden Häusern gab es auch Intendantenwechsel mit neuen Profilierungen. Wir versuchen, die gesamte Theaterlandschaft zu scannen - unser Anspruch ist es nicht, nur die Elite einzuladen.

Und die Theater-Kollaborationen?

Popig: Correctiv ist ein journalistisches Recherche-Kollektiv, das jetzt mit den "Cum-ex papers" zu einem Finanzskandal kommt. Die Frauen-Theatergruppe Henrike Iglesias ist mit der provozierenden Arbeit "Oh My" vertreten.

Worauf sind Sie besonders gespannt?

Schultze: Auf "Verteidigung der Demokratie", auf die Diskussionen rund um den Stückemarkt, auf die Türkei - und besonders auf die Eröffnung mit Rosa von Praunheim aus meiner Heimat Berlin.

Popig: Ich bin besonders gespannt auf das Türkei-Wochenende und darauf, welches Stück den Publikumspreis bekommt. Bei den Gastspielen auf "Erinnya" aus Graz.

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